Joy Oladokun möchte Musik für alle machen: für die queeren Kids genauso wie für den alten weißen Mann, der vielleicht noch nicht bereit dafür ist, dass eine Schwarze Künstlerin im amerikanischen Country-Radio gespielt wird.
Auf ein Genre will sich die Singer-Songwriterin, die als Kind nigerianischer Einwanderer in einer religiösen Gemeinde in Arizona aufwuchs, nicht festlegen; ihre drei bisher veröffentlichten Alben, die sich zwischen Folk, Americana, Country und Pop bewegen, brachten ihr eine breite Fangemeinde ein, den Applaus der Kritik ebenso. 2022 trat sie im Weißen Haus im Rahmen der Unterzeichnungszeremonie des Respect for Marriage Act auf. Ihr aktuelles Album „Living Proof“, auf dem sie unter anderem mit Chris Stapleton, Noah Kahan, dem Manchester Orchestra oder Mt. Joy kollaborierte, wurde zum „Album des Jahres“ der Nashville Scene gewählt.
tipBerlin-Redakteurin Marit Blossey hat die Singer-Songwriterin Ende Februar vor ihrer ersten Deutschland-Show in der Berghain-Kantine getroffen. Ein Gespräch über Verletzlichkeit, Musik als Aktivismus und Joys Erfahrungen als queere Schwarze Person in der Country-Szene, einem Genre, das noch immer weiße Männer bevorzugt.
„Tracy Chapman hat mir die Augen geöffnet“
tipBerlin Hi Joy, wie geht’s dir? Bist du das erste Mal in Berlin?
Joy Oladokun Ich bin sehr aufgeregt! Ich war vorher noch nie hier, wir sind gerade erst angekommen. Ich bin ein bisschen herumgelaufen und habe einen Burger gegessen bei, wie heißt er noch, Burgermeister? Der war so gut!
tipBerlin Du bist in einer kleinen Stadt in Arizona aufgewachsen. Wie kam die Musik in dein Leben?
Joy Oladokun Mein Vater ist sehr musikbegeistert. Ich bin in einem Haus aufgewachsen, in dem es viel Musik gab. Von Montag bis Freitag durften wir nicht fernsehen. Am Wochenende konnten wir uns entweder einen Film ansehen oder stundenlang Musikvideos schauen, Konzertfilme und solche Sachen. Weil wir natürlich so viel fernsehen wollten wie möglich, haben wir uns immer für die Musikvideos entschieden. Als ich zehn Jahre alt war, sah ich schließlich ein Video von Tracy Chapman, die Gitarre spielte. Das war das erste Mal, dass ich jemanden sah, der wie ich aussah und Gitarre spielte, und aus irgendeinem Grund hat mir das die Augen geöffnet, und ich wollte das wirklich unbedingt auch machen. Ich war ein stilles Kind, und ich glaube, ich brauchte etwas, mit dem ich all meine Gefühle ausdrücken konnte. Ich habe meine erste Gitarre bekommen und seitdem spiele ich irgendwie immer. Das ist wirklich meine Lieblingsbeschäftigung.
„Wenn ich einen anderen Job hätte, würde ich am Ende des Tages immer noch Songs schreiben“
tipBerlin In deinen Texten verhandelst du eine Menge intimer Dinge, von psychischer Gesundheit und religiösem Trauma bis hin zur deinen Erfahrungen als Schwarze, queere Person. Ist es manchmal beängstigend, so viel aus deiner persönlichen Erfahrung zu schöpfen?
Joy Oladokun Die einzigen Momente, in denen es sich nicht gut anfühlt, ist, wenn ich das Gefühl habe, dass meine Verletzlichkeit ausgenutzt wird. Aber im Großen und Ganzen liebe ich es. Ich versuche, Musik zu schreiben, aus der ich immer lernen kann. Selbst wenn ich vor ein paar Jahren über ein bestimmtes Erlebnis geschrieben habe, möchte ich es heute singen können und mich immer noch damit identifizieren. Ich habe wirklich Glück, denn ich liebe die Musik, die ich mache, und ich fühle mich mit ihr verbunden. Und ich fühle mich mit den Menschen verbunden, die überall, wo ich auftrete, zu den Konzerten kommen. Jegliche Angst vor dem Alleinsein verschwindet, wenn ich in Räumen wie diesem bin, denn ich bin auf der anderen Seite der Welt und aus irgendeinem Grund kommen die Leute, um mir zuzuhören.
tipBerlin Du hast gesagt, dass du mit deiner Musik dir selbst hilfst, deinen Alltag zu verarbeiten, und auch anderen Menschen dabei helfen möchtest. Versuchst du, deine Texte so zu schreiben, dass sich möglichst viele Menschen damit identifizieren können?
Joy Oladokun Wenn ich einen Song schreibe, dann normalerweise einfach nur, weil es mich glücklich macht. Es hat sich irgendwie ergeben, dass ich beruflich Künstlerin und Songschreiberin bin, aber wenn ich einen anderen Job hätte, würde ich am Ende des Tages wahrscheinlich immer noch nach Hause kommen und Gitarre spielen und singen. Aber dann gibt es einen Teil von mir, der sich entscheidet, sich zu öffnen und all diese Dinge mitzuteilen, weil ich das Gefühl habe, dass es hier einen Gedanken oder eine Idee gibt, die jemand anderem helfen könnte. Zumindest im Moment möchte ich die Dinge weitergeben, von denen ich glaube, dass sie jemandem in diesem Moment helfen könnten. Denn das Beste an diesem Job sind die Menschen.
„Ich finde es schön, dass sich Menschen aus allen Gesellschaftsschichten in meiner Musik wiederfinden“
tipBerlin Also der Versuch, durch Musik eine Community aufzubauen?
Joy Oladokun Auf jeden Fall! Das Beste an diesem Job ist, nach Berlin zu kommen und zu realisieren, dass es Menschen in Deutschland gibt, die wissen, wer ich bin, die meine Musik hören und das Gefühl haben, dass sie ihnen hilft. Das ist sehr, sehr schön. Ich denke, das ist meiner Kultur sehr ähnlich, in der es darum geht, Menschen zusammenzubringen, gutes Essen zu essen, zu lachen und dafür zu sorgen, dass die Leute das haben, was sie brauchen, bevor sie weitergehen. Ich möchte, dass sich meine Shows so anfühlen, als ob die Besucher einfach ein bisschen mit Joy abhängen würden. Wie bei einem Glas Wein mit einer Freundin.
tipBerlin In deiner Instagram-Bio steht „your dad’s new favorite artist“ – der neue Lieblingskünstler deines Vaters. Dein Ziel ist es, Musik für alle zu machen, auch für Leute, mit denen du nicht einer Meinung bist. Warum ist das wichtig für dich?
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Joy Oladokun Ich liebe es zu sehen, dass jeder, der zu meinen Shows kommt, so unterschiedlich ist. Da gibt es ältere Männer mit Bärten, dann all diese queeren Paare und dann all diese Mütter im Hintergrund. Ich finde es wirklich schön, dass sich Menschen aus allen Gesellschaftsschichten in meiner Musik wiederfinden. Das ist es, was ich anstrebe, sodass wir vielleicht, wenn wir uns in der realen Welt begegnen, einfach verständnisvoller sind. Wenn ein alter weißer Mann meine Musik hört und sich damit identifizieren kann, dann hoffe ich, dass er vielleicht beim nächsten Mal anders darüber denkt, wenn er eine queere Person auf der Straße sieht oder eine Schwarze Person. Ich denke, das ist es, was ich versuche: mich selbst menschlich zu zeigen, in der Hoffnung, dass andere Menschen ihre eigene Menschlichkeit annehmen und dann andere Menschen besser behandeln.
tipBerlin Betrachtest du das auch als eine Art von Aktivismus?
Joy Oladokun Auf jeden Fall. Es war mir immer sehr wichtig, so viel wie möglich ich selbst zu sein, damit die Menschen, die mir begegnen, einen echten Menschen kennenlernen. Ich bin kein Rockstar unter den Künstlern, ich bin einfach ich selbst, weißt du. Ich liebe, was ich tue, und ich liebe es, mit Menschen in Kontakt zu treten. Das versuche ich jeden Tag zu tun.
„Die Musikindustrie schafft nicht immer Raum für Menschen, sich verletzlich und offen zu zeigen“
tipBerlin Dieses Gefühl der Offenheit zu kultivieren und des Brücken zu schlagen, das scheint heutzutage immer seltener zu werden.
Joy Oladokun Ich denke, es ist selten, weil es nicht einfach ist. Die Musikindustrie schafft nicht immer Raum für Menschen, die sich verletzlich und offen zeigen und sich gleichzeitig sicher fühlen können. Ich versuche, den Spagat zu schaffen: Ich bin nicht schwach, aber ich bin freundlich, ich mache mir Gedanken und ich arbeite hart. Mit den Künstlern, mit denen ich befreundet bin, bin ich befreundet, weil ich sie liebe, und ich behandle sie so, wie ich jeden anderen Freund behandeln würde, der irgendeinen anderen Job macht.
tipBerlin Bist du deshalb aus L.A. weggezogen?
Joy Oladokun Ja. Mehr Macht für Leute, die in L.A. überleben können, aber ich wollte eine Gemeinschaft haben und ich wollte das Gefühl haben, dass, wenn ich traurig bin oder Probleme habe, Menschen da sind, die mich auffangen.
tipBerlin Wenn du sagst, du willst Musik für alle machen, heißt das, dass du dich dagegen wehrst, in eine Schublade eines bestimmten Genres gesteckt zu werden? Strebst du nach Pop-Stardom?
Joy Oladokun Mir geht es um Zugänglichkeit. Es geht vielleicht weniger um eine schöne Verpackung als vielmehr darum, eine Idee zu vermitteln. Ich möchte etwas schreiben, das für jeden geeignet ist, aber auch etwas, das meinen Geist anspricht und das vermittelt, was ich durchgemacht habe. Im Idealfall ermöglicht das jemandem, darüber nachzudenken, was er durchgemacht hat, und es entsteht ein Gespräch zwischen mir und den Zuhörenden. Das ist das ultimative Ziel. Das kann Pop sein, es kann Folk sein, es kann alles sein, solange es ehrlich ist. Ich nenne es Folk, weil Folkmusik die Musik der Menschen ist, und ich versuche, Musik zu machen, die sich anfühlt, als wäre sie von einem alltäglichen Menschen geschaffen worden. Mein Ziel ist es wirklich, mein Leben so genau wie möglich aufzuschreiben und dann das Gespräch zu öffnen, um zu sehen, was andere Leute durchgemacht haben.
„Make country music Black again!“
tipBerlin Neulich hast du ein Bild von dir und Dolly Parton gepostet, mit der Bildunterschrift „Make country music Black again“. Du hast mit Country-Künstlern wie Maren Morris oder Chris Stapleton zusammengearbeitet. Die längste Zeit war Country-Musik überwiegend ein weißer Raum – ändert sich das jetzt endlich?
Joy Oladokun In der Country Music Hall of Fame in den USA wird heute Abend eine Ausstellung mit einigen meiner Sachen enthüllt. Ich finde das wirklich lustig! Ich schreibe manchmal Country-Songs; auf jeder Platte gibt es ein oder zwei Songs, die ich voll und ganz als Country bezeichnen würde. Aber da ich in Nashville lebe, ist es sehr interessant zu sehen, wie die Leute die mentale Gymnastik machen, die sie machen müssen, um zu sagen, dass das nicht in das Country-Genre oder in die Welt, die sie versuchen aufrechtzuerhalten, passt.
tipBerlin Ist der Kampf um Platz in dieser Branche etwas, das dir wichtig ist?
Joy Oladokun Ich gehe ziemlich offen damit um. Ich versuche nicht, eine Country-Künstlerin zu sein, also weise ich zwar hier und da darauf hin, aber ich kämpfe nicht so sehr darum, weil es andere Schwarze queere Menschen gibt, die aktiv versuchen, Country-Künstler zu sein, und ich möchte ihnen nicht den Platz wegnehmen. Aber ich finde es schon komisch, dass ich mit mehreren wirklich berühmten Country-Künstlern an Songs arbeiten kann und keinerlei Unterstützung bekomme. Ich scherze manchmal, dass die Leute in Nashville mich nicht besonders mögen. Wenn sie sich eine Schwarze Person aussuchen müssten, die im Radio läuft, würden sie mich nicht nehmen, weil ich gerne über die schwierigen Dinge rede. Ich glaube, es wäre einfacher, jemanden zu nehmen, der über diese Dinge schweigt. Die Country-Musikindustrie ist immer noch ein Mikrokosmos – sie ist wie ein kleines Abbild der amerikanischen Regierung! (lacht)
„Ich wünsche allen Dans und Stans viel Glück“
tipBerlin Wenn Beyoncé nun als erste Schwarze Frau die US-Country-Charts anführt, scheint es so, als würde ihr Erfolg eine größere Diskussion über diese von Weißen dominierte Welt erzwingen, oder?
Joy Oladokun Ich liebe „16 Carriages“. Das ist mein Lieblingssong von den beiden. Weißt du noch, als Lil Nas X in den Country-Charts war? Sie haben ihn rausgenommen. Beyoncé ist zu berühmt, als dass sie sie entfernen könnten. So sehr sie auch Schwarze und queere Menschen aus der Country-Musik aussperren wollen, das können sie jetzt nicht mehr tun, weil es Beyoncé ist! So sehr sich die Leute auch fragen, welche größeren Auswirkungen es haben wird, wenn Beyoncé in die Country-Musik geht – irgendjemand wird es schon merken, wenn Beyoncé aus den Country-Charts verschwindet, wisst ihr? Ich wünsche also allen Dans und Stans viel Glück dabei.
tipBerlin Du hast Tracy Chapman als eine deiner Ikonen bezeichnet. Wie war es, sie dieses Jahr bei den Grammys auftreten zu sehen?
Joy Oladokun Es war so bewegend. Ich erinnere mich, als sie vor der Wahl 2020 zurückkam, das war das erste Mal seit Jahren, dass sie gespielt hat. Sie ging in eine Late-Night-Show und hat nichts gesagt. Sie spielte einfach eine Show. Dann ging sie und hatte einen kleinen Aufkleber am Hinterkopf, auf dem stand: Bitte geht wählen. Sie hat sich sehr genau überlegt, was sie tut und was sie nicht tut. Und es war wirklich cool zu sehen, wie sie bei den Grammys dieses Jahr für etwas geliebt und gefeiert wurde, das sie diesem Planeten vor so langer Zeit gegeben hat. Dass sie Jahrzehnte später in einem Raum steht und eine ganz neue Generation von Menschen sieht, die das zu schätzen weiß, ist etwas ganz Besonderes.
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