Kritik

Till Lindemann und sein Soloalbum „Zunge“: Ein Romantiker auf Abwegen?

Till Lindemanns Soloalbum ist erschienen, es heißt „Zunge“ und strotzt vor Körperlichkeit, Sekreten, Hautfalten und Unterleibern, es wird gelutscht, gepisst und geschwitzt. Ist Lindemann ein unverstandener Romantiker des Pop oder einfach nur ein reicher alter Lüstling, der gerne mal über die Stränge schlägt? Beim Rammstein-Frontmann und zentraler Figur im größten Skandal, den die deutschsprachige Musikwelt in den letzten Jahren hervorgebracht hat, lassen sich Werk und Autor jedenfalls kaum trennen.

Till Lindemann und sein Soloalbum "Zunge": Ein prächtiger Männerrücken, verziert mir Rammstein-Tattoo, besonders Augenmerk gilt der Zunge von Till Lindemann. Foto: Imago/IPON
Ein prächtiger Männerrücken, verziert mit Rammstein-Tattoo, besonders Augenmerk gilt der Zunge von Till Lindemann. Foto: Imago/IPON

„Angst vor der Auflösung des eigenen Ich“

Till Lindemann ist 60. Männer, die keine Rockstars sind, nehmen in dieser Phase des Lebens ihren körperlichen und sonstigen Verfall in der Regel demütig hin. Roter Sportwagen, schwarze Lederjacke und jüngere Freundin sind ein Klischee, auch wenn es manchmal stimmt, wie es mit Klischees so ist, lassen es die Männer langsamer angehen. Langsamer. Notgedrungen, aber wie sonst mit dem langsamen aber sicheren Niedergang umgehen? Nicht jeder ist schließlich Mick Jagger. Klaus Theweleit sprach in seinem Standardwerk zum Thema, dem zweibändigen Opus Magnum „Männerphantasien“, von der „Angst vor der Auflösung des eigenen Ich“.

Wer weiß schon genau, ob den skandalumwitterten Brachialsänger Lindemann solch ein Angstkomplex plagt, aber solche eine Angstdiagnose ließe sich durchaus auch auf Till Lindemann anwenden. Indiz dafür ist sein neues Album „Zunge“, nimmt man es genauer, dann eigentlich sein poetisches Gesamtwerk. Als mächtiger und reicher Mann hat er seit jeher einen größeren Werkzeugkasten zur Verfügung, um sich seinen Ängsten zu stellen (oder sich ihnen zu unterwerfen?).

Bei Lindemann scheint die Antwort auf die Angstfrage, Hemmungslosigkeit und Ausschweifung zu sein. Damit folgt er dem Inbegriff des „Dirty old man“. Einem Archetyp, den Charles Bukowski mit subkultureller Lyrik auflud und den der Erwachsenenfilmdarsteller Egon Kowalski mit feistem Grinsen und erigiertem Glied auf einschlägigen Porno-Plattformen auslebt. Im Zeitalter der Wokeness und Awareness ist der „Dirty old man“ auch eine Art anachronistischer Rebell.

Till Lindemanns „Zunge“: Allmacht, Potenz, Gier, Lust und Trieb

Allmacht, Potenz, Gier, Lust und Trieb. All das beschäftigt Lindemann in seinen Texten, die er aus martialisch wagnereskem Klang-Bombast rauspresst. Harte Gitarrenriffs, süßliche Keyboardkaskaden, ein Industrial-Sound aus dem Setzkasten extrem gut bezahlter Produzenten. Ein Sound, der nicht weit weg ist von der harten Ästhetik Rammsteins, ein Sound also, der offensichtlich funktioniert, der Millionen von Fans anlockt und der vermutlich auch wieder funktionieren wird. Skandal hin oder her. Die deutsche Popwelt ist gespalten und dass die eine Seite Till Lindemann und das hinter ihm stehende System für nicht mehr tragbar hält, feuert die andere Seite nur an. Unlängst kündigten Rammstein eine Stadiontournee fürs kommende Jahr an, von einbrechenden Ticketverkäufen ist trotz der Proteste nichts zu hören.

Trotz all den ihm vorgeworfenen Vergehen (juristisch liegt gegen den Mann nichts vor und alle Verfahren wurden eingestellt), trotz Skandal und Eklat, die Till-Lindemann-Maschine läuft weiter. Das muss niemand gut finden, dennoch ist es Realität. Wem dient aber der operettenhafte, schwülstige, fett produzierte Sound, der nach einem zweiten Aufguss der slowenischen Industrialband Laibach klingt, die selbst vor gut 20 Jahren ihren Zenit überschritten hat? Wem dienen die Texte, die nach deutscher Romantik, Groschenroman und Werbekampagne für Workshops von dubiosen Pick-up-Artists klingen? Welches Menschenbild wird hier bedient? Fans verweisen auf „Freiheit“ und „Kunst“, sie stimmen ein neoliberales Plädoyer für grenzenlosen Ausdruck ohne Rücksicht auf Verluste an.

Lindemann holt immer groß aus, pinselt mit dickem Strich

„Bist du ohne Herz geboren oder hast du es verloren“, wie lassen sich solche Zeilen überhaupt noch erklären oder „Alle Tage Leid und Schmerz“? Lindemann holt immer groß aus, pinselt mit dickem Strich auf die Leinwand, alles ist Ausdruck, Expression, er kehrt sein Innerstes heraus. Alles ist Fleisch, Schmutz, Saft und Tier. Viele wollen das hören, das Tierische. Es ist die Reise ins Es und am Tor zum Es steht der vom Wege abgekommene teutonische Kitschromantiker Lindemann und singt seine, denkt man es bis zum Ende, spießbürgerlichen Hymnen. Ein Brunftgeschrei, ein Heulen, ein Brüllen. Es ist zum Heulen.

  • Till Lindemann „Zunge“ (Eigenvertrieb)

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