Was für ein geiles Wetter in und über Berlin! Also nix wie raus mit dem Walkman oder dem iPod – am besten mit „Times“ von SG Lewis auf den Ohren, dessen Sounds einem (samt Robyn und Nile Rodgers) in die Schenkel gehen. Wer es sanft rockig mag, dem empfehlen wir Katy Kirby. Für die späten Abendstunden und die Nacht gibt’s magischen Omnichord-Folk von Lael Neale oder zwei Ambient-Alben: das der Berlinerin Danielle de Picciotto und das der genialen, noch viel zu unbekannten Pauline Anna Strom.
Pauline Anna Strom: „Angel Tears In Sunlight“ (RVNG Intl.)
Ambient Pauline Anna Strom hatte die Gabe, meditative Klangsteingärten zu kultivieren, in denen ein Roboter-Chor Renaissance-Gesang 2.0 anstimmt. Warmer, aber nie wohlfeiler Techno, ohne Kickdrum-Beats. Es schnaubt und zischt. Irgendwo muss eine Volière voller Synthesizer-Vögel stehen, die polyrhythmisch, polymelodisch, vielleicht auch polyamourös Klanggeschenke in die Luft stecken. Pauline Anna Strom war eine der großen Komponistinnen unserer Zeit. Im November 2020 ist sie verstorben, mit 74 Jahren – ein Monat, nachdem ihr erstes Album seit mehr als drei Dekaden angekündigt wurde. Timing kann ein mieser Verräter sein.
Blind seit Geburt, lebte Pauline Anna Strom zuletzt mit ihren beiden Leguanen. Zwischen 1982 und 1988 brachte sie drei Langspielplatten und vier Kassetten raus. Der kommerzielle Erfolg blieb allerdings so bescheiden, dass sie ihr Equipment verscherbeln musste. Seit einiger Zeit ist sie aber wieder in vieler Munde und auch Ohren. Auch das CTM Festival entdeckt ja gerade die „Sisters with Transistors“ im gleichnamigen Film wieder, also Pionierinnen an Musikmaschinen.
Die Compilation „Trans-Millenia Music“ läutete 2017 endgültig das Revival von Pauline Anna Strom ein. Klang-Bescheidwisser wie das US-amerikanische Electro-Duo MGMT wussten das freilich auch vorher schon: Bereits 2010 hatten sie den Track „Morning Splendor“ von Pauline Anna Strom auf ihre Episode der sagenhaften Soundserie „Late Night Tales“ gemixt.
Dass Pauline Anna Strom Meisterin der japanischen Heilkunst Reiki war, glaubt man leicht: Auch die neun Tracks auf ihrem neuen, nunmehr letzten Album erinnern an japanische Environmental- und New-Age-Musik der 1980er (wie man sie etwa wunderbar versammelt findet auf der Compilation „Kankyo Ongaku“) – nicht nur wegen einem melodisch-perkussivem Segen aus Marimba und aus Vibrafon. Farewell, Pauline! (Stefan Hochgesand)
Katy Kirby: „Cool Dry Place“ (Keeled Scales/Cargo)
Indie-Rock Wenn 2020 das Jahr der Phoebe Bridgers war, dann sollte 2021 das Jahr der Katy Kirby werden Die erbaulichen Lobpreisungs-Lieder ihrer evangelikalen Jugend in Texas hat die Songwriterin dankenswerterweise hinter sich gelassen.
Heute balanciert sie besinnliche Folk-Melancholie mit LoFi-Charme und unruhig frickelnden Violinen aus oder mischt eingängig groovenden Indie-Pop mit bratzigen Gitarren und anderen Twists auf. Nicht minder interessant: Kirbys metaphernreiche Sprache. 2021, Du schaffst das! (Nina Töllner)
Lael Neale: „Acquainted With Night“ (Sub Pop/Cargo)
Folk Noir Fans der frühen Kate Bush, der „neuen“, akustischeren Lana Del Rey, aber auch die der Harfenistin Joanna Newsom und der Drone-Organistin Anna von Hausswolff sollten aufhorchen: „Acquainted With Night“ ist nicht bloß eine Reise ans Ende der Nacht, die am nächsten Morgen verschwimmt wie ein flüchtiger Traum, sondern eine der Platten, an die wir uns auch noch am Ende des Jahres erinnern werden, wenn es darum gehen wird, die Bestenlisten zu schreiben.
Es ist Lael Neales Debüt auf Sup Pop, dem Label aus Seatttle, das einst mit Grunge indie-groß geworden ist – aber ist doch ganz schön untypisch für Sub Pop, keine brachiale Gitarrenästhetik: Puristisch begleitet sich Lael Neale auf dem Omnichord, diesem niedlichen Apparat, der wie eine Synthie-Harfe klingen kann. Darüber summt und singt sie eindringlich, nur scheinbar hingehuscht, im Sopran über die Schattenseiten der Seelensumpfes. Verbandelt mit der Nacht halt. Bei „For No One For Now“ wirft Lael Neale aber auch die Lofi-Beatmaschine an. Man hätte all diese Tracks wesentlich opulenter arrangieren können, aber: Sie sind genau so richtig wie sie sind. (Stefan Hochgesand)
Danielle de Picciotto: „The Element of Love“ (Broken Clover/Bandcamp)
Spoken-Word-Ambient Mit ihrem dritten Soloalbum schickt die Berliner Musikerin und Multimediakünstlerin Danielle de Picciotto reichlich tröstende Worte in die aus den Fugen geratene Welt. Und eine Prise magischen Realismus. So mögen wir Menschen doch endlich die Superheld*innen entdecken, die in uns stecken!
De Picciotos assoziative Texte wirken verspielt, ganz und gar unzynisch und offenbaren dennoch so manch doppelten Boden. Getragen werden sie von soghaften, sphärischen Sounds, Streicher driften über elektronische Flächen. (Stephanie Grimm)
SG Lewis: „Times“ (Virgin/EMI/Universal)
House-Pop Mit so viel Vorschusslorbeeen könnte man jahrelang kochen: Pharrell Williams spricht von ihm als einem „weißen Boy mit Soul“, also Seele; der Guardian nennt ihn den „Produzenten du jour“, und Robyn schwärmt, schon lange hätte kein Beat sie mehr so sehr zum Tanzen gebracht wie nun bei SG Lewis. Daher ist sie auch prompt mit von der Partie auf dem Debüt-Album „Times“ von SG Lewis, wie auch Disco-Funk-Legende Nile Rodgers. Extraordinäres Lineup fürs Debütalbum eines gerade mal 26-Jährigen, allerdings hat der gute SG Lewis seit 2015 auch schon fünf EPs rausgehauen und ist, spätestens seit Flume und Disclosure zu seinen Fans zählen, eine sichere Bank.
Die Sounds von SG Lewis sind nicht hyperkompliziert, aber sie klingen edel und sie gehen in die Schenkel. Dass sich das vom seelenlosen Stangenwarensound abhebt, wie er in Fitnessstudios zur Motivation rauf- und runtergenudelt wird, hat sicher damit zu tun, dass SG Lewis im Grunde seines Harmonieherzens ein melodischer Midtempo-Melancholiker ist, ein Soundseelenverwandter von James Blake und Bon Iver – dass er andererseits aber auch eine starke Affinität für HipHop, also auch Rhythmik mitbringt, die knallt. Am besten zusammen findet all dies im Highlight-Track „Impact“ saamt Robyn und Rapper Channel Tres. Wem 2020 das „Energy“-Album von Disclosure Energie gespendet hat, der wird auch mit SG Lewis glücklich auf den heimischen Tanzboden steigen oder draußen joggen gehen. (Stefan Hochgesand)
Mehr Musik
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