Nele Pollatschek hat mit „Kleine Probleme“ einen famosen Roman über einen angehenden Schriftsteller, Betonung auf „angehend“, von Ende 40 geschrieben, der am Silvestertag endlich die titelgebenden kleinen Probleme lösen will: Liebe, Lebenswerk, Nudelsalat. Das Buch schaffte es jetzt auf die „Spiegel“-Bestsellerliste. Wir sprachen mit ihr über To-do-Listen, unwichtiges Geschlecht, ostdeutschen Feminismus und kleine Probleme, die gar nicht so klein sind, wenn man sie erst mal hat.
Nele Pollatschek: Irgendwas kommt immer dazwischen
Nele Pollatschek führt neuerdings auch eine To-Do-Liste. Wie Lars, ihre Romanfigur, ein angehender Schriftsteller von 49 Lenzen, Betonung auf „angehend“. Der hat eine Liste für „Kleine Probleme“, die endlich erledigt werden sollten. Jetzt, zwischen den Jahren. Bis Silvester. Die türmen sich sonst weiter auf. Werden ja auch nicht kleiner. Nur immer mehr.
Das Bett der Tochter aufbauen, die schon 16 ist, und gerade im Ausland. Haus putzen, Vater anrufen, Steuer erklären. Nudelsalat.
Und: endlich das Lebenswerk schreiben. Auf dem Rechner ruht der Friedhof der Arbeitstitel-Dateien, von „Das Beste Buch der Welt.doc“ über „BesteBuch3“ bis „Mann Lars, reiß dich endlich zusammen du Kackvogel“.
„Ach Lars“, wie Johanna geseufzt hat, diese geduldig Liebende, die irgendwann die Geduld verlor, den Koffer packte. Auszeit bis Silvester.
Denn irgendwas kommt ja immer dazwischen. Und schon schrumpft Zwischen den Jahren ratzfatz auf den 31. Dezember zusammen.
Fühlen wir uns nicht alle manchmal lars?
Für den Autor des Textes lässt sich das Treffen mit Nele Pollatschek auch denkbar lars an. Einige hundert Meter vor dem Café in Prenzlauer Berg springt – hätte, hätte – die Fahrradkette ab. Im Stechschritt geht’s bei 30 Spätsommer-Grad weiter. Und man stellt, bei der Begrüßung, fest: Portemonnaie vergessen. Na toll.
„Zahlt der Verlag“, behauptet Pollatschek.
Gut, wäre das immerhin erledigt.
Pollatscheks Roman über einen angehenden Schriftsteller von Ende 40: Erledigt von den kleinen Problemen
Wie aber fängt man am besten ein Gespräch mit dieser Nele Pollatschek an, die seit einigen Jahren bemerkenswert ausgeruhte, durch und durch kluge Texte im Feuilleton der „Süddeutsche Zeitung“ schreibt und deren neuer, zweiter Roman „Kleine Probleme“, ihr drittes Buch, bereits reichlich Furore macht? Ein paar Tage nach diesem Gespräch wird das Buch beim „Literarischen Quartett“ im ZDF von Thea Dorn, Juli Zeh, Cara Platte und Adam Soboczynski unisono abgefeiert. Was ja nun auch nicht ganz so oft vorkommt.
– Frau Pollatschek, dass Sie Gendern sexistisch finden, sich selbst „Schriftsteller“ nennen: okay. Aber als Frau, Mitte 30, ein Buch aus Sicht eines End-40er-Mannes zu verfassen: Was haben Sie sich bloß dabei gedacht?
Das ist insofern eine etwas heikle erste Frage, weil sich Nele Pollatschek gerade nicht vorzugsweise über ihr Geschlecht identifiziert sehen mag, sondern eben etwa als Schriftsteller oder Journalist, auf jeden Fall ohne „-in“. Oder aber und zuallererst als Nele Pollatschek. Ihren maßgeblichen, drei Jahre alten Essay darüber findet man leicht im Internet.
Also setzt sie zu einer Antwort an, die von einiger denkkreisender Ausführlichkeit ist und dabei, natürlich nicht zufällig natürlich, an die großartigen Grübelkaskaden von Lars Cornelius Messerschmitt erinnert. Dass sie mit jedem Menschen, der Lars’ Lage kennt und begreift, viel gemein habe, unabhängig von Geschlecht, Alter oder Schuhgröße. „Deswegen kann es ein 49-jähriger Mann oder eine 15-jährige Eiskunstläuferin oder ein afghanischer Imker sein. Geschlecht ist da einfach unwichtig.“
Und irgendwann landet Nele Pollatschek in dieser langen Antwort bei den kleinen Problemen, die einen überfordern würden, wo man doch eine große Sehnsucht in sich spüre, dieses innere Loch. „Warum muss ich jetzt diese Spülmaschine einräumen, wo ich doch jetzt dieses Loch in mir schließen möchte mit dem Lebenswerk und mit der Liebe?“
So ist das eben. Man will Dinge erledigen. Und ist am Ende erledigt von den Dingen.
Der Wille, nicht am Nudelsalat zu scheitern
Ihr Roman steht wunderbar neben den Trends. Er ist keine autofiktionale Selbstbespiegelung, keine leitartikelhafte Relevanz-Huberei. Und doch sowas von hier und jetzt. Life according to mittelaltem Mensch mit abgebrochenem Philosophiestudium und dem Willen, nicht am Nudelsalat zu scheitern.
Eine dieser großartig alltagsphilosophischen Lars-Abschweifungen geht so: „Es reicht nicht, den Hausrat zu interpretieren, man muss ihn auch verändern.“ Marx-te selber, wa?
Bei aller nicht zuletzt literarischen Komik ist dieses Buch aber auch immer wieder von einer großen Zärtlichkeit, weil die Liebe, dieses Loch in einem selbst, das man doch endlich füllen muss, zuallererst eben nicht komisch oder ironisch ist, sondern voller Ernst, ein überlebensgroßes Empfinden und entweder himmelhochjauzend oder zu Nahtode betrübt, aber einfach nie, nie, nie: schnurzegal.
In einer schmerzlich bewegenden Szene lauscht Lars, über das Handy mit der fernen Johanna verbunden, nur über das Telefon, dem Atem ihres Schlafes, er hat sie darum gebeten, das Mobiltelefon doch noch ein wenig anzulassen. Es ist so unerträglich schön, vielleicht das letzte Mal, er darf nichts davon verpassen, keine Sekunde. „Ich nahm Johannas Schlaf in mir auf, bis ich randvoll war, hör gut hin, dachte ich, merk dir Johannas Atem, der muss vielleicht noch dreißig Jahre reichen.“
Und wer bei dieser Passage nicht einmal eine kleine Träne im Auge hatte oder zumindest, wenigstens, eine kleine Träne dachte, musste ein Herz aus Fertigbeton in seiner Brust tragen. Oder hat die ganz und gar wahrhaftige Liebe noch nie gefühlt.
Ende September stieg das Buch auf Platz 14 in die „Spiegel“-Bestsellerliste ein.
Nele Pollatscheks Essays in der „Süddeutschen“: Lanz, Pazifismus, Boris Palmer. Und das Leben als Jude in Deutschland
In der „SZ“ sinniert Nele Pollatschek über Klimadebatten bei Lanz, den Pazifismus oder Boris Palmer. „Meistens bin ich hinter dem Trend“, sagt sie. „Ich warte immer ein bisschen ab, und wenn ich denke, der springende Punkt ist noch nicht da, dann schreibe ich.“
Sie verfügt über die schwer erklärbare Fähigkeit, zu Unrecht wenig kartografierte Argumentationswege mindestens anders und oft genug neu zu vermessen, sodass man auch im Gespräch mit ihr oft den dringenden Wunsch verspürt, sofort auf diesen Cafétisch zu steigen und „Genau, genau, genau!“ zu rufen. Dabei hat man ja noch nicht mal die Getränke darauf bezahlt.
Ende 2022 gewann Nele Pollatschek den Deutschen Reporterpreis in der Kategorie Essay für ihren Text „Der Preis, den man dafür zahlt, als Jude in Deutschland zu leben“. Ein Satz darin lautet: „Gefühle sind mir wirklich egal, ich möchte nur nicht ermordet werden.“ Uff.
Nele Pollatschek sagt: „Mein Feminismus ist auch total ostdeutsch“
Nele Pollatschek wurde 1988 in Ost-Berlin geboren, ihre Familie siedelte direkt nach der Wende in den Westen um. Mainz, dann Frankfurt/Main. „Ich bin Ossi, das ist ja auch eine Sozialisierung-Frage“, sagt sie. „Mein Feminismus ist auch total ostdeutsch. Das Sein bestimmt das Bewusstsein.“
Sie studierte in Oxford und in Cambridge, promovierte über das Böse in der Literatur, schrieb nebenbei einen Blog über das Verfassen von Doktorarbeiten – und ihr erstes Buch, „Das Unglück anderer Leute“, über eine Patchwork-Familie mit sehr eigenen Charakteren.
„Ich glaube, ich bin eigentlich ein ziemlich glücklicher Mensch“, sagt sie. Aber da sei auch immer dieses Gefühl: „Wenn ich jetzt nicht aufpasse, wird es ganz schlimm.“ Sie zögert. „Dass ganz viel bei mir darin besteht, Fragmente gegen den eigenen Ruin aufzustapeln.“
– Wie ist das nun mit Ihrer eigenen To-Do-Liste, Frau Pollatschek?
Sie streckt ihr Handy über den Tisch. Die Liste auf dem Startbildschirm hat 16 Punkte. Der erste: Spotify kündigen. „Ich möchte gern diese Woche noch einstellig werden“, sagt sie.
– Wie realistisch ist dieses Ziel?
Und Nele Pollatschek erwidert: „Ich möchte seit sechs Wochen einstellig werden.“
Lars würde das verstehen.
- Nele Pollatschek: „Kleine Probleme“ Galiani Berlin, 208 S., 23 €
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