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Berliner Autor

Zehnter Todestag von Wolfgang Herrndorf: Der Vollendete

Am 26. August 2013 setzte der todkranke Autor Wolfgang Herrndorf seinem Leben ein Ende. Kurz vor seinem zehnten Todestag ist die erste Biografie über den wichtigen Berliner Schriftsteller erschienen. Eine Würdigung des Perfektionisten und einzigartigen Künstlers.

Der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf 1965-2013. Foto: Imago/Sven Simon

Am 26. August 2013 nahm sich Wolfgang Herrndorf das Leben

Eine Smith & Wesson Magnum, Kaliber 357! „Das Gewicht, das feine Holz, das brünierte Metall. Mit dem Macbook zusammen der schönste Gegenstand, den ich in meinem Leben besessen habe.“ Der das im Jahr 2011 schreibt, ist nicht etwa ein rechtsradikaler Waffennarr, es ist der Maler, Schriftsteller, Illustrator und Karikaturist Wolfgang Herrndorf, bekannt von vielen Titelseiten des „Titanic“-Magazins, erfolgreicher Autor des Romans „Tschick“, einer sehr deutschen Version des „Huck Finn“. Zwei Jahre später wird sich Herrndorf mit dieser Waffe, gekauft in einem Hinterhof in Neukölln, erschießen. Am 26. August ist sein zehnter Todestag.

Im Februar 2010 war Wolfgang Herrndorf in ein Krankenhaus eingeliefert worden. Er hatte sowohl körperliche – Kopfschmerzen, Schwindelanfälle, Sichtausfälle – als auch psychische Symptome. Die Diagnose war niederschmetternd: Bei ihm wurde ein bösartiger Hirntumor entdeckt, Therapie aussichtslos. Die Frage war nicht mehr, ob, sondern nur noch wann der damals 45-Jährige sterben würde, in einigen Monaten, in ein oder zwei Jahren? In seinem Blog „Arbeit und Struktur“, der nach seinem Tod auch als Buch erschien, berichtete Herrndorf von der Zeit zwischen dieser Diagnose und dem Freitod. Es ist ein lakonischer Bericht darüber, wie man lebt, während man stirbt. „Was ich brauche, ist eine Exitstrategie“, notiert er und beginnt, sich akribisch mit den Möglichkeiten eines Selbstmordes zu beschäftigen. Als er dabei auf die Sterbehilfe der Schweizer Dignitas stößt, kommt der rabenschwarze Humor bei ihm durch: „Nur über meine Leiche!“

Rabenschwarzer Humor und Ekel vor Geschwätz

Es ist genau dieser Humor, der schon Herrndorfs frühe Bücher so lesenswert machte. In seinem Debütroman „In Plüschgewittern“ – eine Verballhornung von Ernst Jüngers Kriegsepos „In Stahlgewittern“ – beobachtet der namenlose Ich-Erzähler seine Umgebung, seine Familie und Freunde mit einer absoluten Emotionslosigkeit, die durchaus an Gustave Flaubert erinnert. Es ist auch eine Geschichte der Kommunikationslosigkeit und des Ekels vor dem substanzlosen Geschwätz, das er erleben muss. Hemmungslos beutet Herrndorf seine eigene Kindheit in der norddeutschen Tiefebene, die Jahre an der Akademie in Nürnberg und den Umzug nach Berlin aus, ohne Skrupel benutzt er Details zur Charakterisierung seiner Figuren, die sein enger Kreis mühelos decodieren kann. Und auch wenn die „Plüschgewitter“ im Angesicht dessen, was noch kommen sollte, nur eine sehr geschickte Fingerübung über vergebliche Liebe war, Herrndorfs unbedingte Präzision ist beeindruckend.

Gedenkkreuz an der Stelle des Berlin-Spandauer Schifffahrtskanals, an der sich Wolfgang Herrndorf das Leben nahm. Foto: Imago/Jürgen Hanel

Doch wie beschrieb es schon Herrndorfs erster Verleger, der Pleiteverleger Gerd Haffmanns: „Man kann sagen, Herrndorf betrat als Vollendeter die Bühne der komischen Kunst.“ Im letzten Jahr der Kohl-Regierung, 1997, verfertigte der junge Maler nämlich ein Porträt nach dem anderen des birnenförmigen Kanzlers der Einheit. Einem Bild im Stil von Jan Vermeer van Delft folgte eines nach Caspar David Friedrich, danach kamen Spitzweg, Georg Baselitz, Edward Hopper, Lucas Cranach, van Gogh. Der Haffmanns Verlag machte daraus dann einen Kalender, heute ein gesuchtes Sammlerstück. Es ist eine schöne Veröffentlichung, schon damals ganz im Geiste Herrndorfs: lustig, aber nicht würdelos, vor allen Dingen aber sind diese Bilder makellos perfekt.

Zehnter Todestag von Wolfgang Herrndorf: Ein ganzer Tag für ein Komma

Noch heute erzählen „Titanic“-Redakteure davon, wie schwierig es war, eine bei Wolfgang Herrndorf bestellte Illustration zu bekommen. Bis zum buchstäblich letzten Augenblick frickelte er daran herum, oft genug rochen die Bilder, die im Frankfurter Büro auftauchte, noch nach Farbe oder waren noch nicht ganz getrocknet. Mit seiner Kunst war Herrndorf genauso verbissen wie später mit seinen Manuskripten: Nur Perfektion zählte. Er konnte einen ganzen Tag damit verbringen darüber nachzudenken, an welcher Stelle im Text er ein Komma setzen wollte, nur um dieses Arbeitsergebnis am nächsten Tag wieder zu löschen. Und gleichzeitig, das findet man bei Herrndorfs Arbeiten im Internet, etwa dem Gemeinschaftsblog „Höfliche Paparazzi“, ist da dieser Drang „mit klugen Menschen dummes Zeug zu reden“, wie Harry Rowohlt mal ausgedrückt hat. Zusammen mit Holm Friebe, Kathrin Passig, Jörn Morisse und anderen Berliner Autoren formiert er die Zentrale Intelligenz Agentur (ZIA), deren Weblog „Riesenmaschine“ ja auch zeitweise im „tip“ abgedruckt wurde.

Mit seinem Debütroman und dem darauf folgenden Erzählband „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“ feierte Wolfgang Herrndorf moderate Erfolge. 2010 erschien dann „Tschick“ und wurde aus dem Stand ein riesiger Erfolg. Die Geschichte von zwei Jugendlichen, die sich in einem geklauten Lada auf eine Odyssee durch den wilden deutschen Osten begeben, verkaufte sich zwei Millionen Mal, wurde in 25 Sprachen übersetzt, es gab eine Bühnenfassung, einen sehr erfolgreichen Film und sogar eine Opernversion. Und dann der Schlag: ein Glioblastom, das seinem Leben ein frühes Ende setzen wird.

Zehnter Todestag von Wolfgang Herrndorf: Immer frische Blumen

„25 Jahre am Existenzminimum rumgekrebst und gehofft, einmal eine 2-Zimmer-Wohnung mit Ausblick zu haben“, notiert Herrndorf in seinem Internet-Blog, „jetzt könnte ich sechsstellige Summen verdienen, und es gibt nichts, was mir egaler wäre.“ Den Blog nennt er „Arbeit und Struktur“, weil er sich auf keinen Fall gehen lassen, der Krankheit verfallen will. Es ist ein Anschreiben gegen den Tod, aber immer nüchtern, ohne Larmoyanz melancholisch, perfekt stilvoll, poetisch. Er erinnert sich an seine Kindheit, an Bücher, die er gelesen, Menschen die er geliebt hat.

Stifte und Steine auf dem Grab von Wolfgang Herrndorf auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof. Foto: Imago/Rolf Zöllner

Gleichzeitig arbeitet Herrndorf immer weiter. 2011 vollendet er die rätselhafte Agentengeschichte „Sand“, mit der er den Preis der Leipziger Buchmesse gewinnt. Und er zählt auf, was das Gute am Tod ist: „Nie wieder Steuererklärung, nie wieder Rentenversicherung …“ Er erzählt von der simplen Schönheit des Schwimmens und Tauchens im Plötzensee. In einem Autodafé vernichtet er Texte, die er nach seinem Tod nicht veröffentlicht sehen will, weil sie den eigenen Qualitätsansprüchen nicht genügen. Und arbeitet immer weiter an seinem letzten Roman, der „Tschick“-Fortsetzung „Bilder deiner großen Liebe“. Es gibt keine Pause, die Zeit arbeitet gegen ihn.

Im Sommer 2013 verschlechtert sich Herrndorfs Gesundheitszustand zusehends. Epileptische Anfälle, Körperentfremdung, Orientierungslosigkeit, Leere im Kopf, Sprachstörungen. Mit Müh‘ und Not wird aus dem Blog „Arbeit und Struktur“ eine Druckfassung erarbeitet. Am Abend des 26. August 2013 erschießt sich Wolfgang Herrndorf am Ufer des Hohenzollernkanals. Heute steht dort ein schmuckloses aus Winkeleisen geschweißtes Metallkreuz, an dem immer wieder frische Blumen stehen. Zur Einäscherung trug er sein liebstes T-Shirt, mit der Aufschrift „Ich mache keine Fehler“.

  • Die erste Biografie über den Künstler erschien kurz vor seinem zehnten Todestag am 15. August: „Herrndorf. Eine Biografie“ von Tobias Rüther, Rowohlt, 384 S., 25 €

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