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Rechtsanwältin Christina Clemm: „Das deutsche Strafrecht kennt keine Femizide“

Christina Clemm ist Rechtsanwältin und Autorin. Im September 2023 ist ihr Buch „Gegen Frauenhass“ erschienen, das zeigt, wie allgegenwärtig die Gewalt gegen Frauen in unserer Gesellschaft ist. Kurz vor der Buchpremiere in der Berliner Volksbühne sprachen wir mit Christina Clemm darüber, welche Vorurteile Frauen im Gerichtssaal begegnen und warum Opfern von sexualisierter Gewalt in Deutschland immer noch zu wenig zugehört wird.

Christina Clemm bei der Buchpremiere von „Gegen Frauenhass“ in der Berliner Volksbühne am 25. September 2023. Foto: Imago/F.Kern/Future Image

Betroffene müssen oft mit hohen Gerichtskosten rechnen

tipBerlin Frau Clemm, Sie schreiben, dass es für Frauen gefährlich sein kann, über sexualisierte Gewalt zu sprechen. Was genau sind die Gefahren? 

Christina Clemm Häufig wird Betroffenen einfach nicht geglaubt. Es ist immer noch mit unglaublicher Scham besetzt, darüber zu sprechen, weil es dann schnell heißt, eine Frau habe die Situation selbst zu verschulden: Warum hat sie sich so angezogen, so viel getrunken, ist mit diesem Typen nach Hause gegangen? Viele Frauen berichten auch, sie würden von ihrem Umfeld auf einmal nicht mehr als Person wahrgenommen, sondern auf eine Opferrolle reduziert. 

tipBerlin Und was passiert, wenn eine Betroffene tatsächlich Anzeige erstattet? 

Christina Clemm Wenn Betroffene Anzeige erstatten, bekommen sie oft Gegenanzeigen. Vor Gericht erleben sie häufig, dass die Verfahren eingestellt werden, oder werden im Gerichtssaal äußerst schlecht behandelt. Wenn sie den Fall öffentlich machen, haben sie zu befürchten, dass sie Unterlassungserklärungen bekommen und mit erheblichen Kosten zu rechnen haben. Man versucht, sie sofort mundtot zu machen. 

„Erzieht eure Söhne“ statt „Schützt eure Töchter“

tipBerlin Sie schreiben in Ihrem Buch, dass sich an unserem Umgang mit sexualisierter Gewalt grundsätzlich etwas ändern muss. Was wäre ein erster Schritt?  

Christina Clemm Noch immer richtet sich der Blick der Gesellschaft vor allem auf die Opfer: Erzählt sie das jetzt nur, um sich wichtig zu machen, um damit in die Öffentlichkeit zu geraten? Auf der anderen Seite wird viel zu wenig gefragt: Warum tun Männer so etwas? Und warum sagt ihr gesamtes Umfeld eigentlich nichts dazu?

tipBerlin Sie als Rechtsanwältin sagen: Strafrecht kann nicht die Lösung sein.

Christina Clemm Das Ziel kann nicht sein, höhere Strafen zu verhängen und die Leute wegzusperren. Nein, das Ziel muss sein, dass diese Gewalt einfach nicht mehr passiert. Dafür müssen Strukturen, die die Gewalt möglich machen, aufgelöst werden. Wenn in Bereichen wie Theater, Film oder Musik Fälle von Machtmissbrauch oder sexualisierter Gewalt an die Öffentlichkeit kommen, heißt es häufig: Ach, das wissen wir doch schon seit Jahren. Warum gibt es diese offenen Geheimnisse? Wie kann es sein, dass es Hochschulprofessoren gibt, bei denen man weiß, dass man besser nicht alleine in die Sprechstunde geht?

Aufklärung über einvernehmlichen Sex müsste schon in der Schule beginnen

tipBerlin Was könnten sinnvolle Präventionsmaßnahmen sein? 

Christina Clemm Ich glaube, wenn es um diese gesellschaftlichen Strukturen redet, dann muss man ganz am Anfang ansetzen: bei der Erziehung. 

tipBerlin Also eher: „Erzieht eure Söhne“ statt „Schützt eure Töchter“?

Christina Clemm Ich würde sagen: Erzieht eure Kinder, so zu leben, dass wir die Grenzen anderer Menschen zu wahren haben. Ich glaube, es ist auch in der Erziehung von Jungs viel bereichernder, wenn sie zu Feinfühligkeit und Empathie erzogen werden. 

tipBerlin Müsste das Thema Consent in der Schule im Sexualkundeunterricht nicht auch eine größere Rolle spielen?

Christina Clemm Total! Im Unterricht geht es meist um die reine Mechanik, anstatt zum Beispiel darüber zu sprechen, was ist überhaupt Lust? Das Erschreckende ist, dass es da gerade eine totale Gegenbewegung gibt. Wenn man in die USA schaut, wo Sexualkunde zum Teil vollkommen verboten wird, oder zu uns, wo die AfD das Schlagwort der „Frühsexualisierung“ gern verwendet, um Panik zu verbreiten.

Christina Clemm: Auch in der Justiz herrschen noch immer Vorurteile

tipBerlin Gibt es im Rechtssystem zu wenig Sensibilisierung zum Thema sexualisierte Gewalt – oder auch schlicht zu wenig Wissen? 

Christina Clemm Zum einen ist die Justiz völlig überlastet. Und tatsächlich gibt es viel zu wenig Fortbildungen für Richter:innen. Auch unter Richter:innen herrschen noch immer viele falsche Annahmen, wie sich ein Opfer zu verhalten hat. Kann man einer Person glauben, wenn sie nicht völlig am Boden zerstört ist? Wenn sie nach dem Vorfall immer noch guten Sex hat? Solche sogenannten „Vergewaltigungsmythen“ können Leute, die nicht gut ausgebildet sind, dazu bringen, an der Glaubhaftigkeit einer Aussage zu zweifeln.

tipBerlin So als müsste man erst darauf warten, dass etwas noch Schlimmeres passiert…

Christina Clemm Viele Betroffene versuchen auch erstmal, sich mit dem Täter zu verständigen: Wie viele Chats ich schon gelesen habe von Frauen, die erst gar keine Anzeige erstatten wollten, sondern versucht haben, das Gespräch zu suchen. Da heißt es dann später: Na, offenbar war es ja nicht so schlimm, sie hat ja noch mit dem Täter gesprochen. Viele Tötungsdelikte, die im Rahmen einer Beziehung oder Trennung begangen werden, werden übrigens nicht als Mord verurteilt, weil der Täter angeblich nicht aus „niederen Beweggründen“ gehandelt hat. Den Femizid, also die Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts, gibt es im deutschen Strafrecht nicht.

Shelly Kupferberg, Christina Clemm, Maria Furtwängler und Benita Sarah Bailey bei der Buchpremiere von „Gegen Frauenhass“ am 25. September 2023 in der Berliner Volksbühne.

Auch Rassismus und Klassismus sind in der Justiz ein Problem

tipBerlin Glauben Sie, dass wir mehr Öffentlichkeit für solche Verfahren brauchen? Oder könnte das auch eher schädlich sein – ich denke da an den Fall Depp vs Heard? 

Christina Clemm Das ist natürlich ein extremes Beispiel und wohl die schlechteste Variante, wie es laufen kann. Allerdings gab es auch vor 20 Jahren in Deutschland noch mehr Menschen, die im Gericht zugehört haben. Mittlerweile ist das sehr viel seltener geworden…

tipBerlin Woran liegt das? Wissen die Leute nicht, dass das überhaupt möglich ist? 

Christina Clemm Vielleicht. Ich bin generell erstaunt, wie wenig Wissen eigentlich über Gerichtsverfahren besteht. Und trotzdem gibt es dieses Ideal: Das Strafrecht wird es schon regeln. Es gibt eine große Rechtsstaatsgläubigkeit in Deutschland. Und dabei ist unsere Justiz so schlecht ausgestattet, wir haben teilweise nicht mal WLAN in den Gerichtsräumen! Häufig sind Richter:innen auch total überlastet mit der Verantwortung, die sie da haben. Es gibt natürlich auch die, die einen großartigen Job machen. Aber am Ende ist die Justiz immer auch ein Abbild der Gesellschaft. Wenn es Misogynie in der Gesellschaft gibt, dann gibt es auch Misogynie in den Gerichten – genau wie Rassismus oder Klassismus.

Christian Clemm: Jura war noch nie die Speerspitze der Revolution

tipBerlin Ist die Justiz denn wirklich ein Abbild der Gesellschaft – gerade im Hinblick darauf, welche Backgrounds die Menschen haben, die in den Gerichten sitzen?  

Christina Clemm Rassismus in der Justiz ist ein riesiges Problem, ja. Klassismus natürlich auch. Wer kann sich dieses Studium überhaupt leisten? Hinzu kommt das Problem, dass es immer wieder große Aufrufe der AfD gibt, sich fürs Schöffenamt zu bewerben. Jura ist noch nie die Speerspitze der Revolution gewesen. Es ist ein Machtinstrument, es geht eher um konservative Haltungen. Man kann sein Jurastudium bewältigen, ohne jemals etwas von Rassismus oder Klassismus gehört zu haben. 

tipBerlin Wie betrachten Sie den Umgang mit MeToo-Fällen in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern? 

Christina Clemm Ich finde nach wie vor, dass MeToo etwas gebracht hat, auch für Deutschland. Trotzdem ist es so, dass sich in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern relativ wenig Betroffene hervorgewagt haben. Das liegt vielleicht auch daran, dass es in Deutschland wenig Anerkennung gibt für die, die den Mut aufbringen, darüber zu sprechen. Da würde ich mir eine andere Kultur wünschen, die nicht immer bloß die Vorurteile in den Vordergrund stellt, sondern auch mal sagt: Wir hören euch zu, erzählt eure Geschichten.

  • Zur Person Christina Clemm, geboren 1967, ist Rechtsanwältin für Straf-und Familienrecht in Berlin. Seit fast 30 Jahren vertritt sie Opfer geschlechtsspezifischer und rassistisch motivierter Gewalt. 2020 erschien ihr Buch „Akteneinsicht – Geschichten von Frauen und Gewalt“.
  • Gegen Frauenhass   von Christina Clemm, Hanser Berlin, 256 S., 22 €

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