Fotografie

West-Berlin 1975 bis 1990: Gottfried Schenk fotografierte Kiez und Subkultur

Von West-Berlin der 1970er- und 1980er-Jahre geht bis heute eine Faszination aus. Es ist eine verschwundene Welt aus heruntergekommenen Hinterhöfen, Schultheiss-Werbung an Brandwänden, urigen Typen und einer schrägen Subkultur. Der Berliner Fotograf Gottfried Schenk begann 1975 mit seinem dokumentarischen Langzeitprojekt, das er seiner Wahlheimat widmete. Er durchstreifte die Kieze und hielt das Abseitige, Merkwürdige und Unbeachtete fest. Einen Wohnungsumzug, Straßenfeste, improvisierte Ateliers, Müllhalden auf denen Kinder spielen, Bauarbeiten in einem besetzten Haus oder eine kurdische Volkstanzgruppe. Sein Bildband „West-Berlin – Kiez & Subkultur 1975 bis 1990“ zeigt ein Panorama der Mauerstadt.

Brachen-Parkplatz in der Zillestraße/Gierkezeile, 1979. Foto: Gottfried Schenk
Brachen-Parkplatz in der Zillestraße/Gierkezeile, 1979. Foto: Gottfried Schenk

Gottfried Schenk zeigt „sein“ West-Berlin

Der Mythos Mauerstadt lebt. Doch heute ist nur noch wenig von West-Berlin übrig. Gut 30 Jahre sind seit dem Mauerfall vergangen. Sanierungen, Abrisse, Modernisierungen und Neubauten haben Berlin nachhaltig verändert. Einst geteilt, heute wieder zusammengewachsen, so dass viele Touristen gar nicht wissen, ob sie sich gerade im ehemaligen Osten oder im Westen befinden. Auch die Zeitzeugen von damals werden weniger, die Erinnerungen verschwimmen, trotz vieler Filme und Bücher zu jener Ära. Damals, als die ersten Häuser besetzt wurden, mit der „taz“ und den Grünen ein Aufbruch ins alternative Zeitalter anbrach, die Punks in Kreuzberg randalierten und eine subversive Boheme mit widerspenstiger Kunst die Welt irritierte und manchmal auch nur die Nachbarn.

Brache mit Werbetafel in Charlottenburg, 1979. Foto: Gottfried Schenk
Brache mit Werbetafel in Charlottenburg, 1979. Foto: Gottfried Schenk

In dieser Zeit begann Gottfried Schenk, Fotos zu machen. Wir schreiben das Jahr 1975, David Bowie sollte demnächst in West-Berlin ankommen, im Dschungel ging die Party ab, Christiane F. nahm Drogen am Bahnhof Zoo und die Künstlerszene speiste schick in Oswald Wieners Exil. Der in Tirol aufgewachsene Schenk kam bereits 1970 in die Mauerstadt, studierte Elektrotechnik an der TU und entdeckte irgendwann die fotografischen Arbeiten des vielleicht berühmtesten aller Berliner Zeichner, Heinrich Zille.

Zille studierte mit der Kamera das so genannte Milieu. Er ging dorthin, wo es schmutzig, arm und elendig war. In die Spelunken und die Hinterhöfe und Schenk folgte Jahrzehnte seinem Vorbild. Statt den Glanz und die Schönheit zu suchen, fand der sein Sujet in den grauen Kiezen mit den alten Mietskasernen, Remisen, schäbigen Eckkneipen und kleinen Geschäften, von denen der Putz abblätterte.

Unterstützer der Mieterinitiative, Nehringstraße, 1979. Foto: Gottfried Schenk

Schenks Bilder halten ein Stück jener Stadtgeschichte fest, die sich nicht in Stadtmarketing-Broschüren finden lässt. Statt Gedächtniskirche und Europacenter fotografierte er alte Werbeschilder, Kohlehändler und Schaufenster von Erotik-Kinos und immer wieder blickte er auf das soziale Miteinander. Auf Straßenfeste, spielende Kinder, Straßenkünstler und die linke Szene mit ihren Instandbesetzungen, Demos und Protestaktionen.

In dem Bildband „West-Berlin – Kiez & Subkultur 1975 bis 1990“ hat Schenk seine wichtigsten Bilder aus 15 Jahren dokumentarischer Arbeit versammelt, ein Projekt, das auch politisch begriffen werden kann. Die Fotografien sind nicht nur Rückblick auf ein vergangenes Kapitel der Berlingeschichte, sie sind zugleich ein kritischer Kommentar, der von den den sozialen Reibungen innerhalb der Stadtgesellschaft erzählt. Ob Armut oder Wohnungspolitik, Frauenkampf oder Migration, in Schenks Bildern finden die Kämpfe an unterschiedlichsten Fronten statt. Manchmal zeigt er sie offen und provokant, manchmal subtil und still.

Musikantinnen bei einem Straßenfest, 1978. Foto: Gottfried Schenk
Musikantinnen bei einem Straßenfest, 1978. Foto: Gottfried Schenk

Es sind Momente, flüchtige Situationen, die der Fotograf sowohl in Schwarz-Weiß wie auch in Farbe einfängt. Doch diese West-Berliner Alltagssituationen – Wohnungsumzüge, Flohmärkte, Straßenszenen – wirken aus der zeitlichen Distanz entrückt. Man erkennt die Gegenden kaum, trotz Ortsangabe ist dort heute wenig mehr so wie es mal war. Dabei haben die Bilder wenig Nostalgisches, Schenk bildet ab, ganz als wollte er sagen: schaut her, so ist es hier.

Schenks Interesse gilt den Traumtänzern und der Vergänglichkeit

Sein Interesse gilt gleichermaßen den Traumtänzern wie der architektonischen Vergänglichkeit. Im Prinzip kann man Schenks Fotoband als Vorgeschichte zu dem ebenfalls bei der Edition Braus erschienenem Fotobuch „Vanishing Berlin“ verstehen. Dafür hat sich der Fotograf Alexander Steffen auf die Suche nach den Zeichen des Wandels begeben und Orte festgehalten, die im Verschwinden begriffen oder bereits verschwunden sind. Steffens Bilder zeigen Brachen, Abrisshäuser, verlassene Läden, unverputzte Brandwände, alte Werbeschilder – es sind Spuren aus der Vergangenheit, allerdings einer Vergangenheit, die in den 1990er-Jahren beginnt. Er widmet sich damit genau der nach Schenk folgenden Epoche. Wo Schenk aufhört, fängt Steffen an.

West-Berlin von Gottfried Schenk: Kinder spielen auf einer Müllhalde, Charlottenburg, 1979. Foto: Gottfried Schenk
Kinder spielen auf einer Müllhalde, Charlottenburg, 1979. Foto: Gottfried Schenk

Man könnte eigentlich bei Zille beginnen, dann mit Schenk weitermachen und mit Steffen enden, so hätte man einen fotografischen Dreiklang, der ein Jahrhundert des „anderen“ Berlin beschreibt. Die Arbeiten dieser Fotografen zeigen, wie wichtig solche individuellen Perspektiven sind, die den Blick auf das Unbeachtete, Schmutzige und Kaputte lenken und den Fokus auf die Unangepassten, Wilden und schräg ins Leben gebauten legen und der Armut und Einsamkeit in der Stadt ohne plumpen Voyeurismus ein Gesicht geben.

Einige Fotos von Gottfried Schenk wirken krass. Etwa die kleinen Kinder, die auf einer Müllhalde spielen. Die mit Sperrmüll übersäte Brache in Charlottenburg ist kein geeigneter Aufenthaltsort für Grundschüler, könnte man schnell denken, aber ist es ein Abbild des Elends oder wild-romantische Urbanität? Denn steht das Bild nicht auch für eine abenteuerlicher Stimmung, für die Idee einer Kindheit, die nicht vor dem Monitor stattfindet?

Kinderumzug, Klausenerplatz, 1979. Foto: Gottfried Schenk
Kinderumzug, Klausenerplatz, 1979. Foto: Gottfried Schenk

Schenk sucht nicht das Besondere, für das West-Berlin bis heute berühmt ist. Wer in seinen West-Berlin-Fotos Nina Hagen, Blixa Bargeld oder Ideal finden will, wird enttäuscht. Statt der illustren Künstler- und Musikerszene, der Szenekneipen und exzessiver Drogennächte jener Jahre, porträtiert er namenlose Straßenmusiker, statt dem SO36 zeigt er Bilder von Mieterinitiativen.

West-Berlin von Gottfried Schenk: Kurdische Volkstanzgruppe, Karl-August-Platz, 1980. Foto: Gottfried Schenk
Kurdische Volkstanzgruppe, Karl-August-Platz, 1980. Foto: Gottfried Schenk

Auch die Migration spielt in seinem Buch eine Rolle. Vor allem die türkische Community, die wohl größte und sichtbarste in der Mauerstadt, kommt immer wieder vor. Frühe Aufnahmen von türkischen Geschäften, türkische Akteure bei Straßenfesten, eine kurdische Volkstanzgruppe. In den 1970er-Jahren begannen die Berliner Türken die Stadt – vor allem Kreuzberg, Neukölln und Wedding – zu prägen. Schenk zollt der Entwicklung Tribut.

Kiezbewohnerin in der Oranienstraße, 1981. Foto: Gottfried Schenk
Kiezbewohnerin in der Oranienstraße, 1981. Foto: Gottfried Schenk

Ergänzt wird das Buch von mehreren Essays. Mit Enno Kaufhold, Peter Markhoff, Tine Preuß und Lilo Rössler fand Schenk vier Autoren und Autorinnen, die seine Bilder historisch, sozial- und kulturgeschichtlich einordnen und zudem die Atmosphäre jener Zeit beschwören und damit dem Schöpfer dieses imposanten visuellen Schatzes die Bedeutung attestieren, die sein Werk hat. Treffend bemerkt der Berliner Fotohistoriker Kaufhold in seinem Beitrag, dass es Schenk nie um eine kommerzielle Verwertung seiner Bild ging, viel mehr wollte er seinen ganz eigenen Blick auf die Stadt zeigen. Auf „sein“ West-Berlin. Das ist ihm in der Tat gelungen.

West-Berlin von Gottfried Schenk: Kohlenanlieferung, Danckelmannstraße, 1978. Foto: Gottfried Schenk
Kohlenanlieferung, Danckelmannstraße, 1978. Foto: Gottfried Schenk

West-Berlin Kiez & Subkultur 1975 – 1990 Fotografien von Gottfried Schenk

West-Berlin Kiez & Subkultur 1975 – 1990 Fotografien von Gottfried Schenk, € 29,90, Edition Braus, Berlin 2021, www.editionbraus.de


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