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Interview

„Kein Halt mehr“: Fotoband zeigt Berlins Kultur in Zeiten des Stillstands

In ihrem eindringlichen Fotoband „Kein Halt mehr“ porträtiert die Berliner Fotografin Denise „Nietze“ Schmidt rund 70 Akteure und Akteurinnen aus der Berliner Kunst- und Kulturlandschaft. Das Spektrum reicht von T.Raumschmiere und DJ Jauche bis Sylvia Thimm, Milan Peschel und der Türsteherin vom SchwuZ, Jen Pahmeyer. Die Aufnahmen entstanden größtenteils in Zeiten der Corona-bedingten Lockdowns und sind zugleich Porträt einer Generation, Zeitdokument wie auch eine Reflexion über den Zustand, in dem sich die Kultur in dieser Stadt heute befindet.

Wir sprachen mit „Nietze“, wie sich Denise Schmidt am liebsten nennen lässt, über ihren Mentor Ben de Biel, die Mobilisierung des eigenen Netzwerks und den Erfolg der Crowdfunding-Kampagne.

Marie Scherzer. Foto: © d.nietze-fotografie // www.dnietze.com

„Viele wirkten verloren, überfordert, hatten finanzielle Sorgen“

tipBerlin Denise „Nietze“ Schmidt, gerade erschien Ihr Buch „Kein Halt mehr“, es zeigt Situationen, Orte aber vor allem Porträts von Menschen aus der Berliner Kunst- und Kulturszene. Wie kam es zu der Idee für dieses Projekt?

Denise „Nietze“ Schmidt Mit dem Fotografieren beschäftige ich mich eigentlich schon seit meiner Jugend – doch nie professionell. Ben de Biel lernte ich durch einen schönen Zufall im Dezember 2018 kennen und er sollte mein späterer Mentor werden. Er gab mir im August 2019 sein Equipment als Leihgabe in die Hand und ich fotografierte, wie eine Wilde, drauf los. Regelmäßig trafen wir uns, durchforsteten Fotobücher gemeinsam, tauschten uns aus über Fotografie und gingen zusammen mit einem kritischen Blick meine Bilder durch. 

tipBerlin Sie bezeichnen sich selbst als „Padawan“ von Ben de Biel, also seine ehrfürchtige Schülerin. Davor arbeiteten Sie in allen möglichen Bereichen, war Ihnen nach der Begegnung klar, jetzt werde ich Fotografin?

Denise „Nietze“ Schmidt Ich lernte unglaublich viel von ihm und mir wurde durch das intensive Zusammenarbeiten klar, dass ich auch damit meinen künftigen Lebensunterhalt verdienen möchte. So bald wurde jedoch mein Wunsch nicht erfüllt, da die weltweite Pandemie ihren unglücksseligen Verlauf nahm. Den ersten Lockdown verbrachte ich nicht in Berlin, sondern hatte glücklicherweise die Möglichkeit, auf dem Land Zuflucht zu finden und das erste Mal in meinem Leben so richtig den Frühling erleben und genießen zu dürfen. 

Der Mentor – Ben de Biel. Foto: © d.nietze-fotografie // www.dnietze.com

tipBerlin Aber Sie kehrten zurück, sonst hätten Sie das Projekt „Kein Halt mehr“ nicht verwirklichen können. Wie ging es dann los?

Denise „Nietze“ Schmidt Ende Mai 2020 kehrte ich nach Berlin zurück, führte unzählige Gespräche mit Freunden, Bekannten, viele wirkten verloren, überfordert, hatten finanzielle Sorgen. Auch ich musste eine Teilzeitstelle in einer ganz anderen Branche annehmen, weil ich auf gar keinen Fall mit dem von mir gefürchteten Ämterwahnsinn in Berührung kommen wollte. Und durch oben erwähnte Gespräche, aus der eigenen Situation heraus, nicht wie gewohnt fotografieren zu können, war die Idee geboren. Im September 2020 schrieb ich dann das Konzept herunter und wollte wissen, was diese Pandemie so mit den Menschen anstellt. Mein besonderer Fokus war auf die Berliner Kunst- und Kulturszene gerichtet, ich war wissbegierig, was all die vielen Akteur:innen machen, wo doch ihr Lebensinhalt,-und ihr Lebensunterhalt komplett wegbrach.

tipBerlin Wie sind Sie an die Leute, die Sie fotografieren wollten, rangekommen?

Denise „Nietze“ Schmidt Zunächst fing ich an, das eigene Netzwerk zu mobilisieren. Freunde und Bekannte halfen mir, Kontakte mit Menschen zu knüpfen, die in irgendeiner Form Leute aus der Branche sind oder waren. Im November 2020 hatte ich dann mein erstes Fotoshooting mit Marie Scherzer. Ich weiß nicht, wie viele E-Mails ich verschickt und wie viele Telefonate ich geführt habe, um Leute zu mobilisieren. Das war auf jeden Fall ein krasser zeitlicher wie organisatorischer Aufwand, den ich irgendwann nicht mehr alleine stemmen konnte.

tipBerlin Und so bauten Sie Ihr Team auf?

Denise „Nietze“ Schmidt Genau. Meine Nachbarin Natalia Ribes konzipierte mit mir zusammen eine Marketingstrategie, um sich in den sozialen Netzwerken bemerkbar zu machen. Meine Barfrau des Vertrauens, Lisa Handwerg, als auch später eine liebe Freundin, Birgit Schreiber, halfen bei der Ausarbeitung von textlichem Content. Meine langjährige Freundin Sarah Glöckner übernahm das Lektorat, und durch einen anderen Zufall kam mit Malika Schluchter noch eine tolle junge Dame dazu, die mich im Rahmen ihrer Möglichkeiten bei der Projektumsetzung unterstützte.

Oliver Marquardt alias DJ Jauche. Foto: © d.nietze-fotografie // www.dnietze.com

tipBerlin Wie einfach oder kompliziert war es, die Shootings zu organisieren? Auf der einen Seite waren viele Leute in der Stadt und hatten weniger zu tun, auf der anderen Seite gab es ja die Kontaktbeschränkungen.

Denise „Nietze“ Schmidt Bei den Shootings ging es auf und ab, einige mussten pandemiebedingt verschoben werden, zum Teil aus gesundheitlichen Gründen oder auch aus Angst vor Covid-19, wieder andere Protagonist:innen waren gar nicht in Berlin und konnten damals nicht spontan zurück kehren. Aus meiner anfänglichen Grundidee, einen Bildband zu gestalten, wurde bald viel mehr. Ich hatte wunderbare, intensive und sehr besondere Gespräche und einen ganz prägenden Gedankenaustausch mit Oliver „DJ Jauche“ Marquardt. Unsere Unterhaltung führte zu einem Umdenken in meinem Kopf.

„Nicht nur Corona und der Stillstand waren unser Problem“

tipBerlin Inwiefern?

Denise „Nietze“ Schmidt Ich merkte, das nicht nur Corona und der Stillstand unser Problem ist, sondern das sich die Pandemie wie eine Art Lupe fungiert und die vielen Probleme, die wir jahrelang geschickt und sehr gekonnt ignoriert hatten, plötzlich sichtbar wurden. Nämlich, das uns neben Corona vor allem der stetig wachsende Kapitalismus derart im Griff hat und so viel Schaden verursacht, auf vielschichtigen Ebenen. Menschlich und wirtschaftlich. So kam es, dass ich immer mehr Texte von den Protagonist:innen des Bildbandes einsammelte und sich das Projekt vom ursprünglichen Fotobuch mehr und mehr in eine hinterfragende und gesellschaftskritische Richtung entwickelte.

Supalife Kiosk. Foto: © d.nietze-fotografie // www.dnietze.com

tipBerlin Finanziell haben Sie das Buch mittels einer Crowdfunding-Kampagne realisiert, warum?

Denise „Nietze“ Schmidt Ben De Biel vernetzte mich mit Leuten aus dem Verlagswesen, diese standen mir mit ihrer Expertise zur Seite, aber am Ende entschlossen wir uns für das Crowdfunding. Das Buch sollte mit solidarischer Hilfe durch die Gemeinschaft entstehen. Die Kampagne haben wir einen Monat laufen lassen. Vorab musste aber unsagbar viel Arbeit dort reingesteckt werden. Texte wurden formuliert und lektoriert, wir stellten Dankeschöns zusammen und produzierten Grafiken und Bebilderungen. Zusammen mit Frank Marks und André Weiß hatten wir zuvor Interviews mit einigen Protagonist:innen gedreht, denn ich hatte die Utopie, das Ganze zu verfilmen.

Das hat letztendlich zwar nicht geklappt, aber wir nutzen die Interviews für das Video der Kampagne. Für mich war das ganze Crowdfunding ein krasser Kraftakt, auch wenn ich Hilfe hatte. Letztendlich wurde das belohnt, denn wir haben das benötigte Geld zusammenbekommen, wofür wir sehr dankbar sind.


  • Kein Halt mehr von Denise „Nietze“ Schmidt, mit einem Vorwort von Ben de Biel, Hardcover, 206 S., 30 Euro, mehr Infos und Bezugsquellen siehe hier.

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