Berliner Kneipen verbinden Gegensätze und Menschen, erzählen Stadtgeschichte und bleiben entgegen aller Widrigkeiten günstig. Auch wenn sie sich für die Zukunft rüsten, sind viele Traditionslokale bedroht. Eine Liebeserklärung an eine urbane Institution.
Berliner Kneipen: Hier soll schon Rio Reiser gepichelt haben
Im Blechschild spiegelt sich das Gestern. Am Ecktisch unter der Hängelampe, neben den widerstandsfähigsten Topfpflanzen Charlottenburgs, zwischen gelben Tapeten und dunklen Holzverkleidungen, vollen Aschern und leeren Willibechern, soll schon Rio Reiser gesessen haben. Harald Juhnke bestimmt auch.
An der Wand ist nicht genug Platz für all die Gedenktafeln und Bierdeckelverewigungen, die man hier aufhängen müsste. Am Fensterplatz lässt sich ein gut betuchtes Ehepaar nieder. Er trägt seinen Sonntagspullunder, sie ihre liebste Bluse. Ob die beiden wohl mal mit Juhnke angestoßen haben? Genau hier? Vor ach so vielen Jahren.
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Die Kneipe als letzte Bastion
Vielleicht haben sie auch über Rios lange Haare gelästert, kurz den Kopf geschüttelt, um danach weiter an ihrem Likörchen zu nippen. Heute trinken sie ihren Halbbitter zwischen UdK-Studierenden, Wilmersdorfer Witwen, Ku’damm-Bankiers, italienischen Vorglühtouris, die sich am günstigen Kindl, Drinnenrauchen und den berlinernden Stammtischoriginalen erfreuen, und natürlich den Molle- und-Korn-Senioren. Am selben Tisch und im selben schummrigen Licht wie schon vor 50 Jahren.
Viel hat sich verändert in ihrem Berlin, in Charlottenburg, an ihrem Savignyplatz – aber nicht in ihrer Kneipe! Das Wirtshaus Wuppke ist noch da. Die Alt-Berliner Kneipe behauptet sich zwischen Bubble-Tea-Läden und Donut-Ketten so resistent wie die passiv rauchenden Pflanzen auf dem Fensterbrett. Der Kellner vom Zwiebelfisch, einer weiteren Institution am Savignyplatz, trinkt hier gerne sein Feierabendbier. Kneipiers halten zusammen. So viele gibt es ja nicht mehr.
Auch um den Zwiebelfisch stand es schlecht. Im Frühling 2020 hatten Unbekannte einen Brandanschlag auf das Kultlokal verübt. Nicht nur das Mobiliar wurde dabei zerstört, sondern auch hunderte Fotos, Poster und Erinnerungen. Entgegen allen Erwartungen hat der Kiez- und Promitreff das Feuer und die Pandemie überlebt. Ein angesengtes Bild im Schaufenster feiert den Triumph. Treffpunkt, Anker, Bindeglied. Generell erlebt die Speisekneipe eine Renaissance: Berliner Gastro-Pubs stellen wir hier vor.
Nicht alle sind glücklich über die Wiederauferstehung des Zwiebelfischs. Eine Anwohnerin lauert jeden Abend darauf, die Polizei zu rufen, wenn kurz nach zehn doch nochmal ein Glas klirrt. Unverständnis bei den Gästen, Existenzangst bei den Wirten. Dass in der Häuserreihe gegenüber monatelang Dachgeschosse zu Luxuswohnungen und „Kapitalanlagen“, wie es auf einem Banner heißt, ausgebaut werden und morgens um sieben die Bohrhämmer lärmen, muss die Nachbarschaft dahingegen akzeptieren. Baulärm, SUV-Gebrumme… Hauptsache kein Kneipengetuschel.
Berliner Kneipen: Fast so wie früher und doch irgendwie neu
Drinnen jedoch bleibt alles beim Alten. Hier trifft man um 1 Uhr morgens schrullige Alt-68er, die abwechselnd in zerlesene Zeitungen und ihre Schultheisstulpe blicken, ihre Enkelkinder, Kiezgestalten, Touris und Eckkneipennostalgiker. Fast so wie früher und doch irgendwie neu. Beliebtheit und Tradition sind keine Überlebensgarantien. Das Mommsen-Eck ein paar Straßen weiter musste im April 2023 nach 118 Jahren des Bierzapfens dichtmachen. In der Zukunftsvision der Investorengruppe war kein Platz für die Gaststätte.
Dass hier schon Berliner Legenden wie Hildegard Knef (ja, und bestimmt Harald Juhnke) Alt-Berliner Spezialitäten genossen und die Kneipe auch in der Gegenwart so gut wie immer ausgebucht war, vergisst man schnell, wenn sich woanders mehr Geld zapfen lässt.
- Knef, Dietrich, Juhnke: Hier findet ihr berühmte Berliner:innen, die man kennen sollte
Die Berliner Eckkneipe war nie die größte Kapitalanlage, aber sie ist und bleibt ein Treffpunkt, ein Anker, ein Bindeglied. Bei einem gepflegten Pils treffen gegensätzliche Menschen aufeinander – und verstehen sich plötzlich gut.
Nina Hagen und Peggy Gou
Es ist genau dieser Austausch und das Erkunden von Lebensrealitäten, der die Kiezkneipen so spannend macht. Auch die größten Szene-Berliner:innen haben irgendwann keine Lust mehr, nur mit Szene-Berliner:innen anzustoßen. Manchmal wird selbst der teuerste Wein zu trocken und der modernste Stuhl zu unbequem. Manchmal macht ein alter Hit von Nina Hagen mehr Spaß als das neue Set von Peggy Gou. Und ab und zu passt sogar alles zusammen.
Kneipen sind keine Museen
Trotz Nostalgie und Tradition sind Orte wie das Mommsen-Eck keine Museen. So ist es umso tragischer, dass aktuell eine der zukunftstauglichsten Gaststätten seiner Zukunft beraubt worden ist: Das Höher’s Eck in Prenzlauer Berg. Wenn man in Charlottenburg, wo die Kiezkneipendichte noch deutlich höher ist als in anderen Bezirken, schon um sterbende Lokale trauert, sollte man sich den Ausflug in Berlins Gentrifizierungshochburg zweimal überlegen. Hier sind mehr Institutionen gestorben, als Yogacafés aufmachen konnten.
Als wir im September für den Text recherchierten und natürlich in den Kneipen Bier trinken waren, bereitete sich mit dem Höher’s Eck eine der letzten Bastionen im Gleimkiez auf den Abschied vor.
Berliner Kneipen: Jede Delle, jeder Kratzer, jeder Fleck erzählt eine Anekdote
Erneut reichte der Dauerprotest einer einzigen Anwohnerin. Die Eigentümer, eine dänische Investmentgesellschaft namens EgnsInvest, kündigte kurzerhand den Mietvertrag. Für die Zukunft könne man sich ein Nagelstudio oder ein Yogacafé vorstellen. Ein sehr schlechter und vorhersehbarer Witz. Seit 100 Jahren verkörpert die Gaststätte die Entwicklung Berlins und die Geschichten der Menschen. In den 1920ern speiste man hier an weiß gedeckten Tischen, in der DDR war das Höher’s die einzige Kneipe im Kiez, in der man bis 24 Uhr essen und trinken konnte. Die Täfelung ist im Jahrhundertwende-Stil geschnitzt, die Bar wurde aus einem Jugendstilschlafzimmer zusammengebaut.
Jede Delle, jeder Kratzer, jeder Fleck erzählt eine Anekdote. Zugleich zeigt die historische Gaststätte, wie Tradition und Gegenwart zusammenkommen können. 2021 übernahm die junge Wirtstochter Athina Dürre gemeinsam mit ihrer Frau Sonja die Kneipe. Frischer Wind und ein mutiger Schritt in der oftmals eingestaubten Gardinenpintenwelt: „Wir führen den Betrieb mit viel Liebe und Herz und haben es in den letzten zwei Jahren geschafft, einen Platz für alle zu schaffen“, schrieben die beiden in der Petition zur Erhaltung der Kiezkneipe. Mehr als 11.000 Unterschriften haben sie gesammelt.
Die Studierenden unter der Stammkundschaft wollten eine Schalldämmung einbauen, die Handwerkenden vom Tresenplatz nebenan sollten mit anpacken. Sie alle setzten sich für ihr zweites Wohnzimmer ein. „Bei uns sitzen Jung und Alt an einem Tisch, kommen miteinander ins Gespräch, lernen voneinander, helfen sich (auch nachbarschaftlich) und lachen oder weinen miteinander“, heißt es auf der Seite.
„Das Höher´s Eck ist ein Stück Berliner Geschichte, das man nicht einfach so wegwerfen darf“
Das Image der Berliner Kiezkneipe hat sich verändert. Viele Lokale, die vor wenigen Jahren noch als Treffpunkte für Alkoholiker, Fußballfans und harte Nachbarschaftsurgesteine verpönt waren, sind heute für Leute attraktiv, die sich früher nicht hineingetraut hätten. Im Höher’s feierte man den ESC, den CSD, den Tanz in den Mai, Weihnachten und Silvester. Die Stammkundschaft machte mit. Aus den Lautsprechern lief Nina Hagen oder auch mal Peggy Gou. Und der halbe Liter Bier kostete immer noch 3,30 Euro. In Zeiten der Inflation kein unwesentlicher Faktor. Lieber ein gut gezapftes Schultheiss als ein schlecht gerührter Martini. Bald gibt es hier wahrscheinlich Chai Latte oder Nail-art-to-go.
Aus für das Höher’s Eck: Ein letztes Prost am Jugendstiltresen
Lange Zeit gaben Athina und Sonja nicht auf. Die Petition lief weiter, und auch von der Politik gab es Unterstützung. Die SPD-Fraktion in Pankow forderte einen Kneipengipfel und stellte einen Antrag in der BVV. Die Wirtinnen luden die Anwohnerin und die Hausverwaltung auf ein Tresengespräch ein. „Das Höher’s Eck ist ein Stück Berliner Geschichte, das man nicht einfach so wegwerfen darf“, schrieben sie. Das Tomsky hat es ja auch geschafft. Die Kneipe in der unweit gelegenen Winsstraße sollte nach 31 Jahren schließen, weil sich eine einzige Person gestört fühlte. Eine Unterschriftenkampagne und Druck aus der Nachbarschaft bewirkten tatsächlich eine Verlängerung des Mietvertrags um zehn Jahre. Beim Höher’s hingegen war dann einfach Schluss. Am 2. Oktober feierten die Wirtinnen und ihr Team ein letztes Mal mit ihrer Stammkundschaft, Freunden und allen, denen diese Jahrhundertkneipe etwas bedeutet hat. Ein letztes Prost am Jugendstiltresen.
Viel ist nicht mehr übrig. Das 1913 gegründete Metzer Eck gibt es noch. Genauso das Diener Tattersall im Alten Westen. Man genießt Hackepeterstullen, Buletten und Fassbier. Wie vor mehr als 100 Jahren oder wie halt 2023. Und im August Fengler, das 1936 eröffnete, gibt es heute Tischkicker und fantastische Spirituosen aus aller Welt – neben gepflegten Bieren natürlich. Die Eckkneipen sind die letzten ihrer Art, Ikonen mit Schaumkronen.
- Wirtshaus Wuppke Schlüterstr. 21, Charlottenburg, online
- Zwiebelfisch Savignyplatz 7, Charlottenburg, online
- Höher’s Eck Rhinower Str. 1, Prenzlauer Berg, geschlossen, hier findet ihr die Petition für den Erhalt der Eckkneipenkultur
- Tomsky Bar Winsstr. 61, Prenzlauer Berg, online
- Metzer Eck Metzer Str. 33, Prenzlauer Berg, online
- August Fengler Lychener Str. 11, Prenzlauer Berg, online
- Diener Tattersall Grolmanstraße 47, Charlottenburg, online
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