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Interview

Jacques Audiard im Gespräch: „Heute ist Erotik vor allem körperlich“

Der Film „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ ist ein Porträt des Stadtteils Les Olympiades – und auch ein Porträt zeitgenössischer Erotik: Der Regisseur Jacques Audiard spricht mit tipBerlin-Autor Frank Arnold über einen Schwarzweiß-Film, der eigenwillig, komisch und sexy ist.

„Wo in Paris die Sonne aufgeht“ von Jacques Audiard. Foto: Neue Visionen

„Wo in Paris die Sonne aufgeht“: Jacques Audiards Film basiert auf Graphic Novels

Nora hat mit 32 ihr Studium wieder aufgenommen, um der provinziellen Enge zuhause zu entfliehen und wird – als sie auf einer Party mit einer blonden Perücke aufkreuzt – für das Webcam-Girl Amber Sweet gehalten. Emilie wohnt mietfrei in der Wohnung ihrer Großmutter, in einem Job hält sie es nie lange aus, sie lebt nach der Devise „erst vögeln, dann mal gucken“. Der Literaturlehrer Camille zieht bei ihr ein, aber von der Liebe haben beide unterschiedliche Vorstellungen.

Drei Menschen, die sich im Verlauf des Films in immer neuen Konstellationen begegnen, stehen hier im Mittelpunkt. Basierend auf drei Graphic Novels von Adrian Tomine hat Regisseur Jacques Audiard zusammen mit seine Kolleginnen Céline Sciamma und Léa Mysius einen Film über junge Leute im heutigen Paris geschrieben, angesiedelt im noch nicht totgefilmten Viertel Les Olympiades.

„Ich wollte ein zeitgenössisches Paris zeigen“

„Es ist ein sehr populäres Viertel, gebaut zwischen 1968 und 1974, auch ethnisch sehr gemischt, oft als Chinatown bezeichnet, weil es das erste Viertel in Paris war, wo es eine Ansiedlung von chinesischstämmigen Emigranten gab“, antwortet Audiard auf die Frage nach dem Drehort. „Zugleich ist es auch ein Viertel mit zwei Universitäten, ein sehr lebendiges Viertel. Ich habe dort selber lange gelebt und liebe es sehr. Fasziniert hat mich, dass ich ein zeitgenössisches Paris zeigen konnte, das in einem ganz anderen Kontext steht als das klassische Paris. “

Die Wurzeln des Films reichen sehr lange zurück, fügt Audiard hinzu. „Ein langgehegter Wunsch war, einen Film über den Liebesdiskurs zu drehen, Das Modell, das dahinter stand, war Eric Rohmers „Meine Nacht bei Maud“, den ich gesehen habe, als ich 15 Jahre alt war. Dort ist es so, dass der Liebesdiskurs nur über die Sprache stattfindet, er zwar ein Stück weit erotisiert wird, aber am Ende haben die beiden gar nicht mehr das Bedürfnis, miteinander zu schlafen. Rohmer hatte dabei Romane des 18. Jahrhunderts im Kopf – ich aber wollte wissen, wie sieht das heute aus? Damals konnte schon die Sprache erotisch sein, heute kommt die Körperlichkeit zuerst.“

Jacques Audiards Sexszenen sind explizit

Die Körperlichkeit, die auch in anderen Filmen des Regisseurs, wie etwa „Der Geschmack von Rost und Knochen“, eine wichtige Rolle spielt, bedeutet für Audiard auch, explizite Sexszenen zu zeigen. War das auch der Grund, den Film in Schwarzweiß zu drehen, damit die Intimität der Figuren beschützt wird? „Das war schon Teil der Idee, hatte aber auch ganz praktische Gründe. Ich wollte die historische Stadt verlassen und auf die Modernität in Paris verweisen. Auch um die von Ihnen erwähnte Rohheit des Fleisches, des Körpers ein wenig abzuschwächen. Gleichzeitig hat Schwarzweiß diese sehr graphische Qualität. Dazu kam noch, dass bei Emilie, die Asiatin ist, und Camille, der Francoafrikaner ist, nur ein paar Grautöne dazwischen liegen, um diese beiden Figuren miteinander zu verbinden. Im Übrigen ist dieser Film für mich eine Komödie. In Komödien geht es ja nur selten um Sex, er wird nicht gezeigt, mehr an den Rand gedrückt. Für mich war das aber ein wesentlicher Bestandteil.

„Les Olympiades“ hat eine schöne Leichtigkeit, sie kulminiert in einer Szene, in der Emilie das Restaurant, in dem sie kellnert, kurz für schnellen Sex verlässt. Als sie zurückkommt, tanzt sie in Zeitlupe und die Gäste applaudieren. „Im Drehbuch stand, sie kommt zurück und setzt ihre Arbeit als Kellnerin fort. Das haben wir gedreht, aber plötzlich fand ich es langweilig. Ich habe dann zu Lucie gesagt: ‚Du kommst jetzt rein und tanzt!‘ Das hat sie so gut gemacht, dass ich davon nur zwei Takes brauchte. Die Statisten in der Szene haben spontan applaudiert, ich habe in dem Moment nicht darauf geachtet, ihnen das zu untersagen, so ist diese spontan entstandene Szene genauso im Film drin geblieben.“

Les Olympiades (OT); F 2021; 106 Min.; R: Jacques Audiard; D: Noémie Merlant, Lucie Zhang, Makita Samba, Jehnny Beth; Kinostart: 7.4.


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