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„All of Us Strangers“: Kraftvoll wie ein Ketamin-Rausch

„All of Us Strangers“ von Andrew Haigh ist ein Liebesfilm, der von einer schwulen Beziehung und einem einsamen Leben erzählt. Die Romanze ist schon jetzt eine der schönsten und traurigsten des Kinojahres – und hat eine atmosphärische Kraft wie ein Traum oder ein Rausch, findet tipBerlin-Filmkritiker Michael Meyns.

Andrew Scott und Paul Mescal in „All of Us Strangers“. Der Liebesfilm ist schon jetzt einer der schönsten und traurigsten des Jahres, findet unser Kritiker. Foto: Parisa Taghizadeh, Courtesy of Searchlight Pictures. © 2023 20th Century Studios All Rights Reserved.

„All of Us Strangers“: Liebesgeschichte zwischen Vergangenheit und Gegenwart

„Außenaufnahme, Haus in einem Vorort, 1987“ steht oben auf der Seite des Drehbuches, an dem der Autor Adam (Andrew Scott, bekannt aus „Fleabag“) schreibt, aber nicht weiterkommt. Allein sitzt Adam vor dem Computer, alleine lebt er in dem Hochhaus am Rand der Stadt, nur ein anderes Fenster ist manchmal beleuchtet. Um die Schreibblockade loszuwerden, streift Adam durch die Stadt, fährt mit der Bahn in einen Vorort, sieht auf einer Wiese einen Mann (Jamie Bell), dem er nach Hause folgt. Das Haus kommt ihm bekannt vor, es ist das Haus, in dem er seine Kindheit verbracht hat, der Mann ist sein Vater, auch seine Mutter (Claire Foy) trifft Adam, der inzwischen älter ist als seine Eltern, denn diese sind vor Jahren gestorben, im Jahre 1987.

Zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Lebenden und Toten bewegt sich Andrew Haigh mit seiner Romanze „All of Us Strangers“, ohne dass die metaphysischen Elemente des Films erklärt werden. Vom ersten Moment an etabliert Haigh eine traumähnliche Atmosphäre, die in einer fast menschenleeren Welt spielt.

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Neben den drei genannten gibt es noch eine Figur, Harry (Paul Mescal), ein Nachbar von Adam, deutlich jünger als er, ein Schwuler aus einer anderen Generation, der mit anderen Dämonen zu kämpfen hat als Adam. Der ist ungefähr im Alter von Andrew Haigh, der hier zwar einen japanischen Roman als Vorlage nimmt, aber durch und durch autobiographisch erzählt. Zwar sind seine Eltern nicht bei einem Autounfall gestorben, aber das Haus, in dem die Filmeltern leben, ist das Haus, in dem Haigh aufwuchs und das seine Eltern immer noch bewohnen.

Die Einsamkeit ist geblieben, nur in anderer Form

Während sich nun in der Gegenwart einerseits eine Beziehung zwischen dem Einzelgänger Adam und Harry entwickelt, sucht Adam andererseits immer wieder den Weg in die Vergangenheit, wo er nachholen kann, was durch den Tod seiner Eltern versäumt wurde: Reden über seine Sexualität, das Mobbing, das er in der Schule erlitt, sein Coming Out erleben. Vieles hat sich in den Jahren seit 1987 verändert, manches auch nicht, vor allem die Einsamkeit, die Adam als Kind spürte, ist geblieben, nur in anderer Form.

„All of Us Strangers“ entwickelt eine eigentümliche atmosphärische Kraft, wie ein Traum oder wie der Ketamin-Rausch, auf den Harry Adam bald mitnimmt, der die Grenzen zwischen Realität und Metaphysik endgültig zerfließen lässt. Und am Ende der Reise dröhnt Frankie Goes to Hollywoods 80er-Jahre-Power-Ballade „The Power of Love“ aus den Boxen, was ziemlich gut zu einer der schönsten, traurigsten Romanzen dieses Kinojahres passt.

  • All of Us Strangers GB/USA 2023; 114 Min.; R: Andrew Haigh; D: Andrew Scott, Paul Mescal, Claire Foy, Jamie Bell; Kinostart: 8.2. 

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