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„Poor Things“: Bildgewaltige Emanzipation eines Monsters

Giorgos Lanthimos erzählt in „Poor Things“ eine Schauergeschichte als Emanzipationsparabel. Für tipBerlin-Kritiker Bert Rebhandl ist der Film ein Höhepunkt des neueren Kinos. Und das vor allem dank einer überragenden Emma Stone in der Hauptrolle – für ihre schauspielerische Leistung gab es gerade einen Golden Globe.

Giorgos Lanthimos‘ neuer Film „Poor Things“ ist ein fantastisches Feuerwerk an Kostümen und Kulisse. Foto: Searchlight

„Poor Things“ erzählt vor allem eine sexuelle Aufklärungsgeschichte

Die Figur des verrückten Wissenschaftlers hat ihre Ursprünge in der Romantik. Wir sind alle Ururenkel von Frankenstein, das wusste schon Frank Zander. Aber natürlich wird es mit der zunehmenden Durchleuchtung des Lebens immer schwieriger, sich noch angemessene Verrücktheiten auszudenken. Der „mad scientist“ hat nur noch ein Orchideenfach zu bestellen. Manchmal treibt dieses Fach aber noch die prächtigsten Blüten, wie nun in dem Film „Poor Things“ von Giorgos Lanthimos.

Willem Dafoe spielt hier einen Wahlverwandten des schrecklichen alten Doktor Frankenstein. Schon der Name seiner Figur macht fast alles klar: Godwin Baxter, Rufname: God. Von früheren Experimenten ziehen sich grässliche Nähte durch sein Gesicht. Er lebt in einem Haus, das stark an eine Gruft erinnert oder zumindest an ein Gespensterdomizil. Wir sind im 19. Jahrhundert in London, rundherum Nebel und Finsternis. Eine Epoche, in der die Aufklärung seltsame Wege nehmen muss. Und das ist genau die Geschichte dieses in jeder Hinsicht extravaganten Films: „Poor Things“ erzählt von einer Aufklärung im Schnelldurchlauf, und beginnt folgerichtig bei der sexuellen.

Willem Dafoe darf in „Poor Things“ ein nur noch selten bespieltes Orchideenfach bestellen: Er spielt den Frankenstein-Wahlverwandten Godwin „God“ Baxter. Foto: Searchlight

Dazu braucht es aber erst einmal ein lernbegieriges Subjekt. Godwin erschafft ein solches, nachdem ihm eine Frau zugebracht wird, die sich in die Themse geworfen hat. Sie ist schon tot, aber der Fötus in ihrem Bauch ist noch nicht verloren, und so fügt Godwin zusammen, was nicht zusammen gehört: einen Frauenleib mit dem Gehirn eines Kleinkindes. Ein attraktives Monster ist geschaffen.

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Emma Stone spielt Bella Baxter, sie hat schon bei „The Favourite“ mit Lanthimos zusammengearbeitet, diese Rolle aber wird mit Sicherheit ein Meilenstein in ihrer Karriere bleiben. Denn sie spielt sehr überzeugend ein Wesen, das alles zum ersten Mal macht. Und wenn Bella an etwas Geschmack gefunden hat, dann holt sie sich mehr davon. Ihr sexueller Appetit zum Beispiel kann im Hause Godwin, wo es neben ihrem „Vater“ nur noch den gutmütigen Assistenten Max McCandles (Ramy Youssef) gibt, nicht ausreichend gestillt werden.

Bei „Poor Things“ können einem vor großartigen Schauwerten die Augen übergehen

Also macht Bella sich aus dem Staub, gemeinsam mit einem Hochstapler namens Duncan Wedderburn (Marc Ruffalo). Der nimmt sie zuerst einmal mit auf ein Schiff, es geht auf Weltreise, sie erreichen sogar die andere Seite des Mittelmeers, bleiben dabei aber die ganze Zeit in der surrealen Welt, die Lanthimos für „Poor Things“ entworfen hat. Ein fantastischer, grotesker Kosmos, mit zahlreichen großartigen Schauwerten. Bei diesem Film können einem tatsächlich die Augen übergehen.

An den intensiven Farben und fantastischen Welten, die Lanthimos in „Poor Things“ entwirft, kann man sich kaum sattsehen. Foto: Searchlight

Das hat auch mit der Vorlage zu tun. Der Grieche Giorgos Lanthimos, der schon lange vorwiegend in Amerika arbeitet, hat einen Roman von Alasdair Gray adaptiert, einem Autor, der eigentlich auf Schottland spezialisiert war, der aber eben mit „Poor Things“ nach London wechselte. Gray war auch Illustrator, er erzählt schon sehr visuell, und die Verfilmung wirkt nun wie ein ästhetischer Trip. Das ist aber keineswegs die einzige Qualität. Denn seine Kraft gewinnt „Poor Things“ ganz und gar aus seiner Hauptfigur.

Emma Stone erregt als Bella Baxter so manchen Skandal – das macht „Poor Things“ umso vergnüglicher

Bella Baxter wird in erster Linie immer als Objekt gesehen. Für ihren Schöpfer ist sie eine Gelegenheit, neue Erkenntnisse zu gewinnen für seine seltsamen Experimente. Für Duncan Wedderburn ist sie zuerst einmal eine sehr leidenschaftliche Geliebte, er hat aber auch sonst noch so einiges vor mit Bella. Doch die lässt es an jeder Kinderstube vermissen und verhält sich in jeder Situation zuerst einmal spontan. Sie überspringt das, was man Zivilisationsprozess nennt: Zwischen sich und ihre Wünsche lässt Bella nichts kommen. Und so erregt sie so manchen Skandal, was wiederum die Erzählung von „Poor Things“ umso vergnüglicher macht.

Bella Baxter (Emma Stone) errregt auf ihrer Heldenreise so manchen Skandal – dabei ist ihr exzentrischer und ausgelassener Tanzstil noch am wenigsten skandalös. Foto: Searchlight

Bella bleibt aber nicht lange naiv, ihr Weg ist auch von einem Willen zum Wissen bestimmt. Und so steht Duncan relativ bald auf verlorenem Posten ihr gegenüber, der große Befreier entpuppt sich als lächerliche Figur (was von Mark Ruffalo wirklich wunderbar gespielt wird). Und Bella muss sich nun aus eigener Kraft durchschlagen. In einem winterlichen Paris. In einer Welt, in der es zunehmend auf die Verteilung von Produktionsmitteln ankam, bleibt für eine Frau ohne Mittel und ohne Geschichte nur der eigene Körper als ihr Mittel zum Zweck. Bella landet in einem Etablissement, in dem ihr Wissen geradezu explodiert. Sie verkauft sich, um sich zu finden.

In „Poor Things“ lassen sich viele wiederkehrende Motive aus Lanthimos‘ Gesamtwerk entdecken

Vor etwas mehr als zehn Jahren, auf dem Höhepunkt der deutschen Beziehungskrise mit Griechenland in der sogenannten „Finanzkrise“, zeigte das Arsenal eine Schau mit damals jungen griechischen Filmemachern. Athinas Rachel Tsangari, Yannis Economides und andere. Von Giorgos Lanthimos lief damals „Dogtooth“ und „Alpeis“ („Alpen“), und wenn man sich jetzt von „Poor Things“ aus
sein Gesamtwerk noch einmal vor Augen führt, kann man viele wiederkehrende Motive entdecken.

Bella (Emma Stone) grenzt sich auch durch einen modern-extravagnten Kleidungsstil vom Rest der Gesellschaft ab. Foto: Searchlight

Eigentlich ist Sozialisation, also das Erlernen der Kompetenzen eines gesellschaftlichen Wesens, sein einziges wirkliches Thema. Vergesellschaftung steht bei ihm unter Generalverdacht, alles, was er zu kennen scheint, ist diktatorische Verfügung. In „Dogtooth“ erzählte er von Kindern, die von ihren Eltern von der Welt ferngehalten werden, und die sogar eine eigene Sprache lernen sollen. Und „Alpen“ war das Drama zweier Frauen zwischen kalten, despotischen Männern. Die ästhetische Brillanz von „Alpen“, in dem Kameramann Christos Voudouris immer wieder nuancierte Schärfen zog, steht in Diensten eines abstrakten Experiments.

Giorgos Lanthimos wurde 2015 mit „The Lobster“ international bekannt

Lanthimos hat sein Interesse allerdings zunehmend in größeren Kontexten ausgelebt. Den Umschlag in seiner Karriere erreichte er 2015 mit „The Lobster“, auch das wieder eine Geschichte um eine soziale Versuchsanordnung, in der Menschen zur Strafe für misslingende Paarbildung in Tiere verwandelt werden konnten. Colin Farrell und Rachel Weisz spielten damals die Hauptrollen, und aus Lanthimos, dem griechischen Kinophilosophen mit einem seltsamen Hang zu perversen Paradiesen, wurde ein Star des Weltkinos.

Frauen, die lesen, sind gefährlich: Bellas chauvinistischer Geliebter Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) findet es gar nicht lustig, dass sein Objekt der Begierde sich bilden möchte. Foto: Searchlight

Er profitierte dabei auch von der zunehmenden Globalisierung des Filmgeschäfts, die sich in Karrieren wie der von Michael Haneke (Oscars mit „Liebe) oder Bong Joon-ho (noch mehr Oscars mit „Parasite“) zeigte – aber auch gerade erst in Berlin mit der Bestellung der US-Amerikanerin Tricia Tuttle als Leiterin der Berlinale. Mit „The Favourite“ erzählte Lanthimos 2018 von der britischen Königin Anne aus dem 18. Jahrhundert – mit einer Paraderolle für Olivia Colman, die auch bei den Oscars als beste Darstellerin erfolgreich war. Emma Stone hatte damals eine Nebenrolle, und Lanthimos war als Könner im Metier des intellektuellen Kostümfilms endgültig etabliert. Auch bei den kommenden Oscars gilt „Poor Things“ nun als höchst aussichtsreich.

Frauen mussten sich im Kino lange dem Diktat der Männer unterwerfen

Die Kraft des Films erwächst in erster Linie aus dem Umstand, dass hier eine Figur brillant mit Widerständen umgeht. Bella will oft mit dem Kopf durch die Wand, und überraschenderweise ist sie dabei erfolgreich. Offenkundig hat Lanthimos die Vorlage noch einmal ein bisschen stärker auf Emanzipationsparabel getrimmt. Das Kino ist ja auch ein Metier, in dem Verfügungsgewalt über Frauen lange Zeit geradezu zelebriert wurde. Stars wurden ausgestellt, gefeiert, angehimmelt, aber sie mussten sich fast immer dem Diktat der Männer hinter der Kamera unterwerfen. Lanthimos ist selbst so ein Diktator, und seine Modellstudien zur menschlichen Zoologik waren immer auch Kinoparabeln.

Emma Stone aber macht sich ihre Rolle mit einer solchen Intensität zu eigen, dass bei „Poor Things“ irgendwann die ganzen Attraktionen zweitrangig werden – das fulminante Design des Films, die überzeugende Dramaturgie, die naheliegenderweise zu einer Rückkehr zum Ausgangspunkt führen muss, die herrlichen Charakterminiaturen in den Nebenrollen, das ist alles Teil eines spektakulären Ganzen. Das Zentralorgan aber, das Herz und Hirn dieses Films, ist ein weiblicher Körper, der schon vor Intelligenz vibriert, als Bella noch gar nicht so richtig weiß, was eine Erfahrung ist. „Poor Things“ aber zeigt, dass das Kino nach wie vor das größte aller Erfahrungsmedien sein kann.

  • Poor Things Großbritannien 2023; 141 Min.; R: Giorgos Lanthimos; D: Emma Stone, Willem Dafoe, Mark Ruffalo; Kinostart: 18.1.

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