Dass sie eine große Schauspielerin ist, weiß man. Nun ist Sandra Hüller an einem Punkt, an dem sie mit Filmen wie „Anatomie eines Falls“ (Goldene Palme in Cannes) und „The Zone of Interest“ den Durchbruch zum Weltstar schaffen könnte. Endstation Oscar? Alles scheint gerade möglich, für den Oscar als beste Hauptdarstellerin ist Hüller nominiert. Zuletzt gewann sie den Europäischen Filmpreis als beste Darstellerin, zudem würdigte die Los Angeles Film Critics Association „The Zone of Interest“ mit Hüller in der Hauptrolle als besten Film des Jahres. Unser großes Interview mit Sandra Hüller aus der November-Ausgabe des tipBerlin lest ihr hier.
Der rote Teppich beim Filmfestival in Cannes ist für viele Stars schon fast das Nonplusultra. Danach kommt nur noch Hollywood. Sandra Hüller war dieses Jahr gleich mit zwei Filmen in Cannes vertreten – „Anatomie eines Falls“ von Justine Triet und „The Zone of Interest“ von Jonathan Glazer. Zwei sehr unterschiedliche Filme – der eine lief im Herbst in den deutschen Kinos, der zweite startet Anfang 2024. Ihren Riesenerfolg mit „Toni Erdmann“ – auch damals begann alles in Cannes – hat Sandra Hüller nun schon mehrfach eindrucksvoll bestätigt. Sie bringt in alle ihre Rollen eine unübersehbare Intelligenz ein, und genau so ist das auch bei ihrem Gespräch mit dem tipBerlin – sie formuliert präzise, korrigiert sich auch immer wieder, jedes Wort soll sitzen. Sandra Hüller erzählt von ihrer Kindheit in Ostdeutschland, von den Erfahrungen in Berlin nach der Wende, sie reflektiert über männlichen und weiblichen Blick, und gibt Einblicke in die Arbeit mit internationalen Regie-Stars.
Sandra Hüller im Interview: Jedes Wort soll sitzen
tipBerlin Frau Hüller, Sie haben Schauspiel in Berlin an der Ernst Busch-Hochschule studiert, vorher waren Sie in Friedrichroda. Wie haben Sie die Stadt damals erlebt?
Sandra Hüller Ich bin ’96 zum Studium nach Berlin gegangen und habe natürlich keinen Vergleich gehabt zu irgendwas. Es war die Nachwendezeit, ich habe sie als extrem frei erlebt, auch gefährlich. Ich war 18. Ich habe das Leben in Berlin als eine große Gemeinschaft empfunden. Die Leute haben sich sehr viel mehr getroffen, als das heute der Fall ist, und haben Sachen zusammen gemacht. Das kann aber auch mit der Schauspielschule zusammenhängen, mit dem Umstand, dass es da eine feste Gruppe gab. Ich habe mit einer Freundin zusammengewohnt – Hinterhaus mit Ofen. Da gab es kaum sanierte Wohnungen. Daran erinnere ich mich.
Und natürlich war es eine Zeit ohne Social Media. Man war mehr angewiesen aufeinander. Ich will jetzt nicht das abgelatschte Klischee von der wilden Zeit bemühen … Wie gesagt, es war meine erste Großstadterfahrung. Ich fand das alles sehr aufregend, und kann das aber nicht trennen von der Achtzehnjährigen, die ich damals war. Objektiv kann ich darüber gar nichts sagen.
tipBerlin Kann man Ihren Beruf studieren? Oder muss man das Grundlegende einfach mitbringen?
Sandra Hüller Man kann Techniken unterrichten: wie man sich nicht verletzt, wie geht die Stimme nicht kaputt, wenn man einen Saal von 1000 Leuten füllen muss ohne Mikroport, wie fällt man richtig? Wie entsteht Status? Wann ist jemand der König und wann der Untertan? Oder Königin und Untertanin? Diese Grundregeln von Raum und Körper erarbeitet man sich. Das Selbstbewusstsein, als einzelner Mensch und in einer Gruppe sich zu zeigen – was man ja vorher nicht gemacht hat –, in einem sehr geschützten Rahmen. In der Ausbildung haben wir die Wege geübt. Es war wichtig, wie man wohin kommt. Warum denkt eine Figur so? Wie motiviere ich einen Übergang, ohne dass da so ein Ruckler drin ist? Das wird dann im Beruf vorausgesetzt, da hilft einem keiner mehr. Es war am Anfang schwer, die richtigen Wege zu bauen.
tipBerlin Wege zwischen Szenen? Wege von einem Bild zum nächsten?
Sandra Hüller Innere Wege oder von einer Empfindung in die nächste. Wie stellt man etwas her oder stellt man überhaupt was her, und muss es immer wirklich da sein? Die unterschiedlichen Arbeitsweisen von Regieführenden: manche wollen sportliches Theater, andere innerliches. Zu allem müsste man ja in der Lage sein. Das Studium geht auch danach immer weiter, aber ohne Lehrende, die sich auf einen konzentrieren. Man selbst versucht, seinen Platz in dem Ganzen zu finden.
tipBerlin In Ihren Filmrollen wirken Sie meist so, als wäre Selbstbewusstsein Ihnen gegeben.
„Selbstbewusstsein habe ich echt nie gehabt, Selbstvertrauen schon gar nicht“
Sandra Hüller Ne, Selbstbewusstsein habe ich echt nie gehabt, Selbstvertrauen schon gar nicht. Aber das Spiel war irgendwie eine andere Kategorie. Eine Geschichte hat einen Anfang und ein Ende, eine Figur hat einen Text. Ich weiß ganz genau, was ich damit machen möchte, oder jemand hilft mir dabei, oder wir finden etwas gemeinsam heraus. Ich fand das viel konkreter als mein eigenes Erleben als Jugendliche.
tipBerlin Woher kommt also diese gewisse Selbstverständlichkeit in Ihrem Auftreten vor der Kamera?
Sandra Hüller Ich will das nicht so mit der Geste präsentieren: Guck mal, was ich kann. Wenn ich etwas einmal rausgefunden habe, wenn ich mir über etwas sicher bin, dann versuche ich, das auch durchzusetzen. Ich lag öfter auch schon mal falsch, und ich lasse mich da auch überzeugen. Aber erstmal folge ich meinen Instinkten.
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tipBerlin Mit Maren Ade und der Berliner Firma Komplizenfilm hatten Sie einen Welterfolg mit „Toni Erdmann“. Werden Sie noch einmal zusammenarbeiten?
Sandra Hüller Wir sind in Kontakt. Maren hält ihre Ideen immer unter Verschluss, bis es halt so weit ist. Ich hätte große Lust, aber ich bin mir sehr unsicher, ob sie mich noch einmal fragt. Da habe ich keinen Einfluss drauf.
tipBerlin Woran Maren Ade arbeitet, das würden viele gern wissen.
Sandra Hüller Ich weiß gar nichts.
tipBerlin Was hat „Toni Erdmann“ für Sie bewirkt? Verändert?
Sandra Hüller Viele unterschiedliche Dinge. Ich bin nach wie vor sehr froh darüber, dass es so geklappt hat. Dass ich Peter Simonischek kennenlernen konnte, der leider nicht mehr da ist. Es ist eine sehr reiche Zusammenarbeit gewesen, in der ich übrigens auch viel gelernt habe, wie Sachen nicht gehen. Es ist in dieser Arbeit öfter vorgekommen, dass ich mir was ausgedacht, und das stimmte dann einfach nicht. Es war dann aber auch nicht schlimm, das einzugestehen, es kostet halt nur Material. Dann, das liegt, glaube ich auch in meiner Person, hat mich der Erfolg ein bisschen erschreckt. Weil es sich von allen Seiten anhörte, als wäre das so ultimativ. Ich wusste erst einmal nicht, was ich damit machen soll. Ich habe lange gebraucht, um mich zu sammeln
tipBerlin Wie kamen Sie zu der Hauptrolle in dem französischen Film „Anatomie eines Falls“ von Justine Triet?
Sandra Hüller Ich hab Justine kennengelernt, als ich 2012 in der Jury war für den Kurzfilm-Bären bei der Berlinale. Wir haben sie damals prämiert für „Vilaine fille mauvaise garçon“. Es hat mich extrem beeindruckt, wie sie mit Spielenden umgeht, aber auch, wie chaotisch ihre Art des Erzählens ist, und sie trifft dabei trotzdem Punkte. Sie hat auch moralisch viele Grenzen überschritten. Das ist mir aufgefallen, aber es hat mich nicht verletzt, sondern herausgefordert. Dann kam sie kurz vor ihrem Film „Sybil“ (2019) auf mich zu, und bot mir eine Rolle an. Diese Zusammenarbeit war für uns beide eine sehr schöne Erfahrung, und sie hat während der Dreharbeiten angekündigt, dass sie etwas vorhat, wo wir dann länger miteinander zu tun hätten. Und das kam dann eines Tages. Ich habe mich sehr darüber gefreut, und so haben wir das in Angriff genommen.
tipBerlin Sie sprechen in „Anatomie eines Falls“ vorwiegend Englisch, aber auch Französisch, die Figur Sandra Voyter ist Deutsche.
Sandra Hüller Justine hat das Drehbuch erklärtermaßen für mich als eine deutsche Schauspielerin geschrieben. Mehrsprachigkeit und Sprachbarrieren und die Missverständnisse, die entstehen, wenn man sich sprachlich nicht versteht, war von Anfang an Thema.
tipBerlin Sandra Voyter muss sich vor Gericht gegen den Vorwurf verteidigen, sie hätte ihren Mann getötet. Hat Sie dieser Aspekt, dass eine Aussage vor Gericht auch immer eine Art Spiel oder Performance ist, interessiert?
Sandra Hüller Ich empfinde es nicht so, dass der Auftritt vor Gericht eine Performance ist. Das ist der Versuch, ehrlich zu antworten auf die Fragen, das ist schwer genug in dieser Situation. Sandra wird vorbereitet auf die Härte dieses Prozesses. Sie probt ein bisschen. Sie sagt dann aber auch Dinge, die sie eigentlich verheimlichen sollte. Sie trifft also irgendwann ihre eigenen Entscheidungen. Justine Triet hat in diese Geschichte so viele unterschiedliche Momente hineingeschrieben, das trägt zum Reichtum dieser Figur bei.
tipBerlin Es gibt eine zentrale Szene in dem Film, in dem Sandra mit ihrem Mann in Streit gerät darüber, wer wem in einer Beziehung was schuldet. Sandra zeigt sich dabei herausfordernd autonom.
„Viele Menschen verstricken sich in Erzählungen über einander und über sich selbst“
Sandra Hüller Ich finde frappierend an ihr, dass sie zu allem steht, was sie ist. Das könnte sonst was sein, das muss nicht nur ihre Sexualität sein. Der Mann hat genau dieselbe Freiheit und könnte genau so leben, wie er möchte. Macht er aber nicht. Dafür ist er allein verantwortlich. Justine hat viele, viele Versionen dieser Streitszene mit ihrem Mann zusammen geschrieben. Ich finde es auch total interessant, dass ein Paar das geschrieben hat, ein Paar, das immer noch zusammen ist. So genau beobachtet und auf die Spitze getrieben findet man so etwas selten. Der Grundkonflikt ist, wenn jemand sagt, die Verantwortung liegt wirklich bei dir, und du musst dein Leben gestalten und nicht ich. Das passiert leider zu selten. Viele Menschen verstricken sich in Erzählungen über einander und über sich selbst. Deswegen fand ich diese Ausformulierung so gut. Sie funktioniert auch deswegen so gut, weil sie so genau durchdacht ist, wozu man, glaube ich, in einer realen Situation manchmal nicht die Gelegenheit hat.
Sandra Hüller über „Anatomie eines Falls“: „Das Drehbuch war wasserdicht“
tipBerlin Ließ das Drehbuch noch Raum für Ergänzungen, für Improvisation?
Sandra Hüller Das Drehbuch war wasserdicht. Das hat mir auch daran gefallen. Egal, wie ich da rangegangen bin, es gab nichts, was nicht funktioniert hätte, sondern wurde immer reicher und auch logischer. Trotzdem ist Justine ganz offen für Vorschläge. Ihr Selbstbewusstsein wird nicht angekratzt, wenn Leute Ideen haben. Sie ist sehr beweglich und weiß trotzdem, was sie möchte. Es ist aber trotzdem, nochmal trotzdem, so, dass am Ende sie im Schnitt entscheidet, welche Geschichte erzählt wird. Es sind einige Szenen rausgeflogen oder umgestaltet worden. Sie hat auch Testscreenings gemacht. Das kann man nur machen, wenn man so viel Material wie möglich sammelt. Wir haben alle möglichen Varianten der Szenen gespielt.
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tipBerlin Sie sind derzeit mit zwei internationalen Filmen präsent, neben „Anatomie eines Falls“ auch in „The Zone of Interest“ von Jonathan Glazer, wo Sie die Frau des Kommandanten des Vernichtungslagers Auschwitz spielen. Beginnt gerade eine neue Karrierephase?
Sandra Hüller Das ist ein Zufall. Die Angebote kamen zeitlich versetzt. Durch Corona hat sich das alles zeitlich zusammengeschoben. Dass die beiden Filme dieses Jahr gleichzeitig nach Cannes gingen, hat sich ergeben. Niemand wusste genau, wie lange Jonathan Glazer schneiden würde. Da wir mit vielen Kameras gedreht haben, gab es unendlich viel Material. Er hat lange gebraucht, um rauszufinden, was er im Endeffekt machen will. Er hatte natürlich eine Vision, aber es war sehr kompliziert.
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tipBerlin Wann wurde gedreht?
Sandra Hüller Die Dreharbeiten waren im Sommer 2021.
tipBerlin Jonathan Glazer gilt als eine der mysteriösen Figuren im amerikanischen Kino. Er macht nicht allzu viele Filme, und wenn, dann außergewöhnliche. Wie haben Sie ihn erlebt?
Sandra Hüller Ich habe ihn als sehr konkret, transparent und kollegial erlebt. Er ist jemand, der sehr sorgsam mit den Stoffen umgeht, die er sich aussucht. Der sehr viel Wert darauf legt, dass er richtig verstanden wird mit dem, was er möchte. Ich finde ihn gar nicht geheimnisvoll. Er ist zurückgezogen, er kann wenig anfangen mit irgendeiner Aufregung um seine Person, was ihn mir sehr sympathisch macht. Es geht ihm um die Stoffe, da hat er überhaupt kein Ego. Er lässt einem ganz viel Freiheit als spielender Mensch, kann einem aber gleichzeitig, wenn man wirklich nicht weiß, wo man langgehen soll, Vorschläge machen. Das ist eine tolle Mischung.
tipBerlin Wie sind Sie mit dem herausfordernden Thema umgegangen?
„Ich bin in einem antifaschistischen Land großgeworden“
Sandra Hüller Ich glaube, ich weiß da nicht mehr als der Durchschnitt. Jonathan Glazer und sein Team haben jeden Stein umgedreht, um alles herauszufinden über dieses Paar. Ich bin in einem antifaschistischen Land großgeworden.
tipBerlin Antifaschismus war zentral für das Selbstverständnis und die Selbstinszenierung der DDR.
Sandra Hüller Was man leider vergisst manchmal … Die Bildung hat viel über diesen Teil der deutschen Geschichte aufgeklärt. Von da her kommt bei mir das meiste Wissen darüber.
tipBerlin Sie sind in Thüringen aufgewachsen. Wie haben Sie diese frühen Jahre erlebt?
Sandra Hüller Es war in erster Linie eine Kindheit. Die Wende kam, als ich elf war. Kindheit wird im Rückblick idealisiert. Gleichzeitig gibt es das politische Bewusstsein einer erwachsenen Person, die etwas weiß über die Vergehen, die in diesem Land stattgefunden haben. Mehr weiß ich dazu gar nicht.
tipBerlin Ist es für Sie wichtig, dass Sie Ostdeutsche sind?
Sandra Hüller Was heißt wichtig? Es ist halt ein Fakt. Ich bin in der DDR geboren. Das ist so. Und wird immer so bleiben. Und ich lebe jetzt nicht mehr in der DDR.
tipBerlin Sie haben zuletzt auch mit Natja Brunckhorst gearbeitet. Die frühere Schauspielerin („Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“) macht inzwischen Regie. In welcher Phase ist „2:1“?
Sandra Hüller Wir sind fertig.
tipBerlin Worum geht es?
Sandra Hüller Das ist ja auch ein Film über die Wendezeit, über die Währungsunion. Ich fand faszinierend, wie sie den Ton dieses Wankens zwischen Hoffnung und Verzweiflung getroffen hat. Sie war ja damals nicht dort gewesen.
tipBerlin Wo?
Sandra Hüller In Gera.
tipBerlin Was charakterisiert Natja Brunckhorst als Regisseurin?
Sandra Hüller Natja arbeitet ganz anders als Justine Triet oder Maren Ade. Sie weiß vorher, was sie im Schneideraum brauchen wird, und sammelt gar nicht. Sie ist sehr, sehr ruhig in der Arbeit – auch ganz anders als Maren und Justine, oder Maria Schrader. Natja hat sich alles genau vorgenommen und macht das dann auch so. Sie mag, glaube ich, nicht so gern Überraschungen.
tipBerlin Für Frauen ist es tatsächlich schwieriger, im Kino öffentlich zu altern. Beispiele wie Nicole Kidman oder Jane Fonda zeigen, dass gerade in Amerika kosmetische Eingriffe sehr selbstverständlich sind. Wie stehen Sie dazu?
„Wenn ich Kate Winslet angucke – da sehe ich nichts“
Sandra Hüller Das wechselt so, je nachdem, wie es einem gerade geht. Sie haben prominente Beispiele genannt, es gibt auch andere. Wenn ich Kate Winslet angucke – da sehe ich nichts. Oder Charlotte Rampling. Oder Frances McDormand. Ich kann mich da schon an andere Kolleginnen halten, die auch immer noch da sind. Ich bin aber gespannt, wie das jetzt wird, wenn wir nach Amerika fahren, um die Filme zu bewerben. Wann denn der erste fragt: hast du schon mal darüber nachgedacht? Wie es mir dann geht, und was ich dann sage. Wache ich dann eines Morgens auf, und denke, ich muss jetzt doch mal zum Arzt? Oder kommt dann jemand, und sagt, es wäre jedenfalls besser für deine Karriere? Dass ich Veränderungen an mir, an meinem Körper, an meiner Kapazität, an meiner Stressresistenz und so weiter und so fort wahrnehme, das ist ja vollkommen klar.
tipBerlin Sie waren seit 2018 im Ensemble des Schauspielhauses Bochum. Jetzt aber nicht mehr, richtig?
„In der Begrenzung in der Gleichförmigkeit liegt etwas Verlässliches“
Sandra Hüller In Bochum bin ich immer wieder als Gast, ich bin aber im Moment nicht in einem Ensemble, was ich sehr bedaure. Ich wäre das gern. Ein großer Teil der Energie von Arbeit in unterschiedlichen Zusammenhängen geht ja dafür drauf, sich zu orientieren, sowohl sozial wie auch räumlich. Wenn ich an einem Theater arbeite, wo die Abläufe jeden Tag gleich sind und ich jeden Tag die gleichen Leute sehe, ist die Arbeit so viel mehr in Fokus, und das, was wir da miteinander erfinden. In der Begrenzung in der Gleichförmigkeit liegt etwas Verlässliches. Im Tun ergibt das so viel mehr Freiheit. Ich hoffe, dass das noch irgendwann wieder stattfinden wird.
tipBerlin Das ginge dann aber nur in Leipzig, wo Sie leben.
Sandra Hüller Alles, wo ich pendeln müsste, fällt weg. Da drehe ich lieber. Deswegen überwiegt Film im Moment.
tipBerlin Wie kamen Sie zum Spielen?
Sandra Hüller Es gab eine kleine Kurbühne, da lief „Lolek und Bolek“ und später „Dirty Dancing“. Mein erstes richtiges Theaterstück habe ich in Berlin gesehen.
tipBerlin Woher kam dann der Wunsch, oder die Idee, Schauspielerin zu werden?
Sandra Hüller Das Fernsehen. Ich habe viel und ungefiltert ferngesehen, und habe mich, glaube ich, immer schnell identifiziert. Und ich war oft sehr genau da drin, ob ich etwas glaube oder nicht. Mich hat es oft geärgert, wenn jemand nur so getan hat. Ich habe automatisch darüber nachgedacht, wie etwas gehen könnte, ohne zu wissen, dass das eigentlich schon Überlegungen einer spielenden Person sind. Ich habe das niemals eingeordnet. Dann kam ein Theaterkurs, und so fing das langsam an. Aber ich habe mich nie im Film gesehen.
tipBerlin Das Fernsehen gilt heute eher als ein Ort, an dem Kreativität behindert wird. Wie sehen Sie das?
Sandra Hüller Wir reden über die 80er-, 90er-Jahre. Da wurden laufend Kinofilme im Fernsehen gezeigt. Das Fernsehen lieferte aber auch bestimmte Abziehbilder, das ändert sich langsam, das wird jetzt nicht immer wieder reproduziert.
tipBerlin Dem Fernsehen wird oft unterstellt, es wäre zu vorsichtig.
Sandra Hüller Das sind Lernprozesse, in denen künstlerische Freiheit mit den mutmaßlichen Erwartungen des Publikums vermittelt werden muss. Mit dem, was man einem Publikum zumuten will oder kann.
tipBerlin Kann sich das Kino größere Freiheiten nehmen?
Sandra Hüller „The Zone of Interest“, wenn wir das als Beispiel nehmen, hat ja fast gar keine Dramaturgie. Das war Jonathan Glazer auch wichtig, dass man nicht einfach die Struktur eines Dreiakters da drüberstülpt. Darauf hat er sehr bewusst verzichtet, er hat einfach dieses Leben am Rande von Auschwitz in seiner ganzen Banalität gezeigt. Das hat er durchgesetzt, auch wenn da vielleicht jemand sagt, das hält ja keiner durch. Justine hat ihre Dramaturgie genauso komplett selbst gebaut. Ich hoffe, das geht so weiter. Oft ist ja das Argument: so ist das nun einmal im Leben. Wenn es um Gewalt gegen Frauen geht, zum Beispiel. Wenn ich aber sage: Moment, das Leben ist doch viel komplizierter, da wird dann mit zweierlei Maß gemessen. Inzwischen ist die Aufmerksamkeit viel mehr gewachsen auf das Reproduzieren von Rollenbildern, auch das Reproduzieren von Gewalt.
- Paradies Auschwitz: Die Rezension von „The Zone of Interest“ lest ihr hier
tipBerlin Oder auf Diversität.
Sandra Hüller Bis es zu einer wirklichen Diversität im Fernsehen kommt, das ist auch noch ein weiter Weg. Da werden jetzt bestimmte Regeln eingehalten, aber man merkt aber auch immer ganz genau, wann eine Figur nur eine Funktion erfüllt. Das ist momentan ein Zwischenschritt.
tipBerlin Arbeiten Sie lieber mit Frauen? Vielleicht auch aus Gründen der Emanzipation?
Sandra Hüller Ich würde tatsächlich nie nach Geschlecht entscheiden, mit wem ich arbeite. Ich hab das Glück, dass mir Projekte von allen Geschlechtern angeboten wurden, und ich mich immer frei entscheiden konnte. Eine Quote finde ich gut, aber ich persönlich habe die nicht, und ich glaube, das muss auch an einer anderen Stelle ansetzen als bei der Auswahl von Projekten.
Ich habe neulich ein spannendes Gespräch gehabt mit einer Kollegin. Wir haben uns über den männlichen Blick unterhalten. Es ging um das Altern vor der Kamera, sie war da sehr angstbesetzt oder hat da bestimmte Erfahrungen gemacht, und ich nicht. Obwohl wir ungefähr in einem Alter sind. Wir kamen darauf, dass sie ausschließlich von Männern ausgebildet wurde, und ich von Frauen. Das war dann sehr einfach, das wahrzunehmen, dass da der Unterschied liegt, nämlich, ob man dazu erzogen wurde, gefallen zu wollen, also auf eine bestimmte Art gesehen zu werden, oder ob man miteinander etwas erfindet. Ich kenne einfach diesen Blick nicht, und wenn ich ihn erkenne, gehe ich einfach weg. Es sollten also deutlich mehr Frauen ausbilden, weil das Patriarchale auch über das Lehren weitergegeben wird. Wofür man Applaus bekommt, das prägt halt.
Ein Liebesfilm für die Generation Tinder: „Falling into Place“ von Aylin Tezel in der Filmkritik. In „The Ballad of Songbirds and Snakes“ wurde viel in Berlin gedreht: Das sind die Drehorte des neuen „Tribute von Panem“-Spinoffs. Alte und neue Film(plakat)-Kunst: Die Ausstellung „Großes Kino“ in der Kunstbibliothek führt durch über 100 Jahre Filmplakate. Was läuft sonst gerade? Hier ist das aktuelle Kinoprogramm für Berlin. Mehr aus der Filmwelt lest ihr in unserer Kino-Rubrik. Euch fehlt der Überblick über die Berliner Filmfestivals? Die besten Festivals übers Jahr verteilt haben wir hier zusammengetragen. Und wenn die Filmfestspiele laufen, erfahrt ihr in unserer Berlinale-Rubrik alles darüber – zum Beispiel diese Neuigkeit: Oscar-Preisträgerin Lupita Nyong’o wird Jurypräsidentin der Berlinale 2024.