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Neu im Kino

Filmstarts der Woche: „Titane“ mit Palme, „Hinterland“ gegen „Babylon Berlin“

Diese Woche wartet mit einem der großen Arthouse-Titel des Herbsts auf: „Titane“ von Julia Doucournau kommt mit der Empfehlung einer Goldenen Palme in Cannes und sprengt vieles, was man bisher über männliche und weibliche Körper gesehen hatte; außerdem startet „Hinterland“ von Stefan Ruzowitzky, in dem das Wien um 1920 mit „Babylon Berlin“ wetteifert; diese beiden und weitere Filmstarts der Woche im tipBerlin-Überblick.


Titane

„Titane“ von Juia Ducournau. Bild: Koch Films

DRAMA Die Tänzerin Alexia bekam als Kind nach einem Unfall eine Titanplatte in den Kopf gesetzt. Nach einer Reihe von Gewalttaten taucht sie unter. Julia Ducournau erzählt die mythische Geschichte einer radikalen Verwandlung, in drastischen Bildern und mit Agathe Rousselle in einer extremen Hauptrolle. Bert Rebhandl+

WIr sprachen mit Julia Ducournau über ihren Film „Titane“: „Der Mythos ist unerbittlich“ – das Interview hier.

F 2021; 108 Min.; R: Julia Ducournau; D: Agathe Rousselle, Vincent Lindon, Garance Marillier; Kinostart: 7.10.


Hinterland

„Hinterland“ von Stefan Ruzowitzky. Bild: Paramount

HISTORISCHER THRILLER Unterschiedlicher könnten die geweckten Assoziationen kaum sein: Mal ist man an „Das Cabinet des Dr. Caligari“ erinnert, mal an Murnaus „Nosferatu“. Dann erinnert die Szenerie an „Sin City“ oder die Bilder von Ernst Ludwig Kirchner. Eines aber ist Fakt: Der neue Film von Stefan Ruzowitzky sieht sensationell aus.

Seit seinem furiosen Regiedebüt „Tempo“ von 1996 ist der heute knapp 60-jährige Wiener Stefan Ruzowitzky für Überraschungen gut. Seine filmische Palette reicht vom anarchistischen Heimatdrama „Die Siebtelbauern“ über den Horrorfilm „Anatomie“ und den Oscar-Gewinner „Die Fälscher“ bis zum umstrittenen Dokumentarfilm „Das radikal Böse“ und der Endzeitserie „8 Tage“. Ruzowitzkys Inszenierungsstil pendelt danei von grobkörnig („Die Fälscher“) über glatt („Anatomie“) bis zu farbenprächtig („Narziss und Goldmund“). Nun hat sich Ruzowitzky mit „Hinterland“ von den Bildern her weit aus dem Fenster gelehnt – und er triumphiert.

Wien 1920: Nach zwei Jahren russischer Kriegsgefangenschaft kehrt der Offizier Peter Perg (adäquat stoisch: der Wiener Murathan Muslu) mit einigen Kameraden in seine komplett veränderte Heimatstadt zurück – der Kaiser hat abgedankt, die Republik ist ausgerufen. Pergs Ehefrau hat sich mit der Tochter aufs Land zurückgezogen, er zögert, sie zu besuchen. Und wird als ehemaliger Kriminaler in eine blutige Mordserie verwickelt, vom jungen Inspektor Paul Severin (Max von der Groeben brillierte zuletzt in „Auerhaus“) als Verdächtiger abgestempelt und von seinem früheren Kumpel, dem jetzigen Polizeirat Victor Renner (Marc Limpach), in den Dienst zurückgeholt. Behilflich ist Perg die junge Gerichtsmedizinerin Dr. Theresa Körner (Liv Lisa Fries aus „Babylon Berlin“). Der Ex-Soldat muss erkennen, dass die bestialischen Morde in Zusammenhang mit seiner Kriegsgefangenschaft stehen.

Mittels der Blue-Screen-Technik, bei der der Hintergrund einer Szene am Computer kreiert wird, hat Ruzowitzky einen expressionistischen Look geschaffen, mit schrägen Häusern und zugespitzten Perspektiven. Doch das alles wirkt kaum artifiziell und geschieht nicht zum Selbstzweck, sondern spiegelt recht treffend die innere Zerrissenheit der Hauptfigur wider. Martin Schwarz

A/LUX/B/D 2021, 99 Min., D: Murathan Muslu, Liv Lisa Fries, Maximilian von der Groeben, Marc Limpach, Start: 7.10.


Töchter

„Töchter“ von Nana Neul. Bild: Warner

DRAMA Was Martha und Betty eint, ist die diffizile Beziehung zum eigenen Vater. Martha (Alexandra Maria Lara) hat nun eine Bitte an Betty (Birgit Minichmayr), wie sie nur bei einer engen Freundin möglich ist: Sie soll Martha und ihren kranken Vater Kurt (Josef Bierbichler) in die Schweiz begleiten, Kurt will dort Sterbehilfe in Anspruch nehmen. Auf der Fahrt Richtung Süden in Kurts altem VW Golf brechen immer wieder die Spannungen zwischen Vater und Tochter auf. Schließlich offenbart der eigensinnige Kurt den Frauen, dass er keineswegs sterben, sondern einer Jugendliebe am Lago Maggiore begegnen will.

Und Betty? Die nutzt diesen kuriosen Trip, um das Grab ihres Stiefvaters Ernesto (Giorgio Colangeli) in Italien zu besuchen – nur um festzustellen, dass dieser quicklebendig ist und auf einer griechischen Insel eine Eremitendasein führt. Betty reist nach Griechenland …

Der vierte Kinospielfilm der Regisseurin Nana Neul basiert auf dem Bestseller von Lea Fricke, die auch am Drehbuch beteiligt war. Und die beiden sorgen beim Zuschauer für ein Auf und Ab der Gefühle: zum einen die Freude, Lara, Minichmayr und vor allem Bierbichler dabei zu beobachten, wie sie aus dem etwas sperrigen Skript das Beste herausholen und immer wieder knallige Bonmots von sich geben. Zum anderen der Frust, das die Geschichte ähnlich wie die beiden Töchter irrlichtert – das ist doch mal eine ungewöhnliche Annäherung von Inhalt und Form. Etliche dramaturgische Straffungen hätten dem in südlich warmen Bildern fotografierten Film (Kamera: Bernhard Keller, „Die Wand“) wohl gut bekommen. Fazit: Väter kann man sich nicht aussuchen. Martin Schwarz

D 2021, 122 Min., R: Nana Neul, D: Alexandra Maria Lara, Birgit Minichmayr, Josef Bierbichler, Giorgio Colangeli, Start: 7.10.


Nowhere Special

„Nowhere Special“ von Uberto Pasolini. Bild: Piffl

DRAMA Es sind besonders die kleinen Szenen und Gesten, die diesen Film groß machen: die 34. Kerze zum 33. Geburtstag, ein toter Käfer, ein davonfliegender roter Luftballon, eine Leiter, die sich als zu hoch erweist. Bereits mit „Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit“ über einen Mann, der die Verwandten allein Verstorbener sucht, hatte der italienische Regisseur Uberto Pasolini 2013 seine Könnerschaft im leisen Erzählen bewiesen.

Nach außen hin versucht John (James Norton) Ruhe auszustrahlen, sich mit der unmöglichen Situation abzufinden. John ist selbstständiger Fensterputzer in einer nordirischen Stadt, erzieht seinen vierjährigen Sohn Michael (Daniel Lamont) alleine – und ist unheilbar krank. Die wenige Zeit, die ihm noch bleibt, will er dazu nutzen, für seinen Sohn geeignete Ersatzeltern zu finden. Also zieht er mit einer Frau vom Adoptivamt von Anwärtern zu Anwärtern – eine schwierige Aufgabe. Soll es das wohlhabende Ehepaar werden oder die alleinstehende Frau? Oder doch die Großfamilie? Und Michael? Der eher schweigsame Junge mit den großen braunen Augen beginnt Fragen zu stellen, weiß er doch nichts vom Zustand seines Vaters.

Bei so viel Emotionalität tut Autor und Regisseur Uberto Pasolini das einzig Richtige: Er übt in Inszenierung und Schauspielerführung die größtmögliche Zurückhaltung, James Norton („Little Women“) ist brillant in seinem minimalistischen Spiel. So entsteht ein sensibles, vom Kameramann Marius Panduru in langsamen, eleganten Bildern eingefangenes Drama über ein Leben, das endet, und über ein anderes, das geplant werden muss. Und es geht einem das Herz auf, wenn man miterleben darf, wie nah sich Vater und Sohn sind. Und das Schönste: „Nowhere Special“ entlässt einen in seiner Philanthropie auch versöhnlich aus dem Kino. Martin Schwarz

GB/I/ROM 2020, 96 Min., R: Uberto Pasolini, D: James Norton, Danile Lamont Eileen O’Higgins, Start: 7.10.


The Sparks Brothers

„The Sparks Brothers“ von Edgar Wright. Bild: Universal

MUSIKDOKU Als Siebzigerjahre-Version der Marx Brothers hätten sie super in die Muppet-Show gepasst. Wenn es Musiker gibt, die das durch und durch frei drehende 1970er-Jahrzehnt verkörperten, in denen Pop-Kultur alles durfte, gehören die Brüder Ron und Russell Mael definitiv dazu. Der Bandname „Sparks Brothers“, den sich ihre Plattenfirma ausdachte, war ihnen trotz aller Verehrung für die legendären Komiker zu plump, man einigte sich auf Sparks. Aufgewachsen im sonnigen Kalifornien, wurden sie sozialisiert durch Hollywood, die Beach Boys, Surfen und Football, einen Auftritt der Beatles in Las Vegas. Aber auch die französische „Nouvelle Vague“ hinterließ früh Spuren in ihren jugendlichen Gemütern.

Schlicht „The Sparks Brothers“ lautet nun der Titel eines Dokumentarfilmes über die Band. Regisseur Edgar Wright startet den längst überfälligen Versuch, das mäandernde Universum der Band in halbwegs geordneten Bahnen zu beschreiben. Es gelingt ihm nur partiell, aber das sei ihm nachgesehen, wussten die Sparks mitunter in ihrer 40-jährigen Karriere selbst nicht so genau, wohin es sie treibt. In den 1970er-Jahren trieb es sie erst einmal nach London, in das damalige Epizentrum des Glam Rock. Wären sie eine britische Band gewesen, der erste „Battle of Britpop“ hätte sich nicht zwischen Blur und Oasis, sondern den Sparks und Queen zugetragen, und das nicht nur wegen der spektakulärsten Popstar-Schnauzbart-Träger ihrer Zeit, Freddie Mercury und Ron Mael. Die im Film kolportierte Anekdote des Telefonats von John Lennon mit Ringo Starr, als Lennon die Sparks bei „Top of the Pops“ erstmals im Fernsehen sah, darf an dieser Stelle keinesfalls gespoilert werden.

Es gibt viel zu lachen in „The Sparks Brothers“, mit den Brüdern und über die Brüder. Sie waren exemplarisch für alle nur vorstellbaren Befreiungsakte und Zumutungen, die Pop-Kultur bieten kann. Was dabei von ihnen ernst oder ironisch oder beides zugleich gemeint war, ist schwer zu unterscheiden. Für eine routiniert runter gespulte Musikkarriere waren sie immer die Falschen, mit zu vielen Brüchen in ihren Songs und Sounds, zu oft gegen den Mainstream gebügelt. Mit 76 Jahren (Ron) und 73 (Russell) muss man sie sich trotzdem als glückliche Künstler vorstellen. Ihr großer Traum, mal Musik für einen französischen Film zu komponieren und dafür zum Cannes Filmfestival eingeladen zu werden, erfüllte sich endlich 2021 mit Leos Carax neuem Film „Annette“.  Andreas Döhler

GB 2021, 141 Min., R: Edgar Wright, Start: 7.10.


Here We Move, Here We Groove

„Here We Move, Here We Groove“ von Sergej Kreso. Bild: Rise and Shine

PORTRÄT „Ich bin ein Berliner.“ Robert Soko zitiert einen berühmten Politiker und findet, dass er das nach drei Jahrzehnten in der deutschen Hauptstadt wohl auch von sich behaupten darf. Rückblende: Berlin-Kreuzberg in den 1990er Jahren. Robert Soko hat den Krieg in Bosnien antizipiert, kommt mit 19 Jahren nach Deutschland, arbeitet zunächst als Taxifahrer und macht sich in den 2000er Jahren als DJ mit BalkanBeats, einer Mischung der traditionellen Blechblasmusik seiner Heimat mit elektronischen Beats einen Namen – bald auch weltweit.

Doch mittlerweile hat Soko trotz immer noch erfolgreicher Auftritte erkannt, dass seine DJ-Shows zur Routine geworden sind: „Ich habe meinen Auftrag erfüllt. Es macht mir keinen Spaß mehr.” Soko vergleicht seine Situation mit der Zeit, als er als Taxifahrer arbeitete. Es gäbe Fahrer, die einfach nur auf Fahrgäste warten, sagt er, doch er sei immer auf die Jagd gegangen. Das müsse er auch jetzt wieder tun. Neue Inspiration soll her. Er findet sie vor allem in Begegnungen mit Musiker:innen verschiedenster Nationalitäten – unter anderem in Marseille sowie bei einer Reise in die alte Heimat Bosnien, wo sich mittlerweile Migrant:innen drängen, um über die Grenze nach Kroatien in die EU zu gelangen.

Der bosnisch-niederländische Regisseur Sergej Kreso, der in seinen Dokumentationen immer wieder Fragen kultureller Identität nachgeht, schafft mit dem Porträt Robert Sokos einen Film, der insbesondere von der Begegnung lebt: mit Orten und mit Menschen, die mit ihren Talenten Soko zwar zur Inspiration dienen, dabei aber stets ganz sie selbst bleiben können, mit eigenständigen Ideen, Wünschen und Zielen.   

Soko trifft einen jungen Rapper aus Afghanistan, der seit anderthalb Jahren als Flüchtling unterwegs ist und von einem eigenen Studio in Deutschland träumt, begegnet einem Musiker aus Syrien und arbeitet mit einer griechischen Sängerin. Es sei ein neuer europäischer Sound, der ihm vorschwebe, erklärt Robert Soko und glaubt, dass vor allem Migrant:innen ihm dabei helfen können. 

Es ist ein schönes Porträt, das Sergej Kreso hier gelungen ist, nah an einer europäischen Realität, sehr intelligent in seiner Verbindung von musikalischen Erfahrungen und – alten und aktuellen – Familiengeschichten, die nicht immer nur von gelungener Kommunikation künden. Und: All dies sieht in der Inszenierung auch noch gut und elegant aus. Lars Penning

NL 2020, 92 Min., R: Sergej Kreso, Start: 7.10.


Uta

„Uta“ von Mario Schneider. Bild: GMfilms

PORTRÄT In Leipzig gehörte sie jahrezehntelang quasi zum Stadtbild, sah man sie mit ihrem Akkordeon in den Fußgängerzonen stehen und ihre traurigen Lieder singen: Uta Pilling, Künstlerin, Lebenskünstlerin, die im letzten Sommer kurz nach der Premiere des nun ins Kino kommenden Dokumentarfilms „Uta“ verstarb. Schon in Mario Schneiders letzten Film „Akt – Vier Leben ein Akt“ war Uta Pilling zu sehen, doch ihr Leben bietet genug Stoff für einen eigenen Film, für eine ebenso tragische Schicksalsgeschichte, wie ein berührendes Porträt einer Frau, die unangepasst und abseits jeder gesellschaftlichen Norm gelebt hat.

Schon im Mutterleib wurde sie für tot erklärt, überlebte dennoch, wurde in ihrer Kindheit vom Vater missbraucht, überlebte auch das. Von vier Männer hat sie fünf Kinder, auch eins von einem Mann aus Somalia, das in der Kindheit rassistisch beleidigt wurde und bald an Krebs starb. Zusammen mit dem Musiker Jens-Paul Wollenberg lebte Pilling seit 1990 zusammen, sie machten gemeinsam Musik, tourten durch Deutschland und die Nachbarländer, und lebten zuletzt am Rande des Existenzminimums in Leipzig.

Ein gewöhnlicher Job kam für Pelling nie in Frage, sich anzupassen hatte schon in der DDR nicht funktioniert, im wiedervereinten Deutschland sang sie bald über das Scheitern des Kapitalismus und den aufkommenden Rechtsextremismus, unermüdlich, sich auch von verbalen und körperlichen Angriffen nicht einschüchtern lassend.

Ein erstaunliches Leben beschreibt Mario Schneider in seinem Film, aus Archivaufnahmen und neuen Gesprächen mit Pelling und ihrem Umfeld entsteht das Bild einer Frau, die augenscheinlich bis zu ihrem Tod sich selbst treu blieb, aneckte, sich nicht verbiegen ließ und trotz Schicksalsschlägen, die für zwei Leben reichen würden, nur selten ihre Lebensfreude verlor.  Michael Meyns

D 2019, 90 Min., R: Mario Schneider, Start: 7.10.


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