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Interview

Julia Ducournau über ihren Film „Titane“: „Der Mythos ist unerbittlich“

Ein Tänzerin, die eine Metallplatte im Kopf trägt, durchläuft in „Titane“ eine radikale Verwandlung. Für diese Geschichte, in einer extremen schauspielerischen Leistung dargeboten von Agathe Rousselle, gab es in diesem Jahr beim Filmfestival in Cannes eine Goldene Palme. Und das Weltkino hat einen neuen Star: Julia Ducournau. Sie war vor einigen Wochen in der Stadt, und Bert Rebhandl hatte für tipBerlin Gelegenheit, mit ihr zu sprechen

„Titane“ von Julia Ducournau: In Cannes für viel Begeisterung gesorgt. Bild: Koch Films

Ducournau: Göttergeschichten für die französische Regisseurin eine entscheidende Inspiration

Bei den alten Griechen begann die Welt mit einem Inzest: Uranos hatte mit seiner Mutter Gaia viele Kinder, darunter zwölf Titanen. Sie wurden alle weggesperrt, weil der Vater an ihnen keine Freude hatte. Zur Strafe wurde ihm dafür das Glied abgeschnitten, mit einer Sichel, für die Gaia eigens den Stahl erfunden hatte. Es geht wild zu in diesen frühen Sagen, und es schadet nicht, wenn man ein bisschen darin blättert, bevor man sich „Titane“ von Julia Ducournau ansieht. Denn die Göttergeschichten sind für die französische Regisseurin eine entscheidende Inspiration. „Der Mythos ist unerbittlich.“ Es klingt beinahe ein bisschen schwärmerisch, wie sie das sagt während des Interviews, das der tip mit ihr führen konnte. „Der Mythos erzählt von all diesen Dingen, die eigentlich nicht zu akzeptieren sind. Die Götter sind grausam. Man kann sich schwer mit ihnen identifizieren.“

Die Filmemacherin Julia Ducournau. Foto: Koch Films

Diese Schwierigkeit hatte Ducournau auch mit ihrer zentralen Figur: Alexia. Nach einem Unfall in ihrer Kindheit trägt sie eine Stahlplatte aus Titan über dem rechten Ohr. Wir sehen sie dann wieder als Tänzerin, die sich mit Autos besser zu verstehen scheint als mit Männern. Bald ist die Polizei hinter ihr her, denn Alexia reagiert brutal, wenn jemand sie begehrenswert findet. „Das war etwas, das ich meinen Produzenten verkaufen musste: eine Figur, auf die man sich nicht leicht beziehen kann, eine Figur, die hauptsächlich Körper und Gewalt ist“, erzählt Julia Ducournau. „Es geht nicht nur darum, eine Person moralisch zu verstehen. Es reicht, zu ihr ein Gefühl zu entwickeln, eine Nabelschnur zu finden.“

„Titane“ von Juia Ducournau. Bild: Koch Films

„Titane“ von Ducournau: Alexia ist von einem Auto schwanger – oder?

Wenn man „Titane“ beim Wort nehmen möchte, dann erzählt Ducournau davon, dass Alexia von einem Auto schwanger wird. Sie verwehrt sich aber gleich gegen diese Deutung: „Das ist dann doch eine Reduktion. Es geht um viel mehr in meinem Film. Es geht um Liebe, und zwar um eine unbedingte Liebe, eine Liebe ohne Bedingungen. Ich stelle mir die Frage, ob so eine Liebe überhaupt möglich ist außerhalb von Repräsentationen.“ Man hört bei Julia Ducournau immer wieder die Sprache der französischen Theorie durchschimmern, sie nennt ihren Film selbst „barock“, und vor allem passt eines der zentralen Wörter in neueren Debatten über Körper, Politik und Identität: „Es ist wohl unübersehbar, dass mein Film queer ist.“ Bei den Filmfestspielen in Cannes gab es dieses Jahr die Goldene Palme für „Titane“. Es ist ihr dritter Film, und Julia Ducournau, geboren 1983 in Paris, gilt nun als eine der großen Hoffnungen des internationalen Autorinnenkinos. Eine Frau, die intellektuelles Fetischkino macht, und die in ihrer Musikauswahl locker zwischen italienischem Schlager, amerikanischem Synthpop und Bachs „Matthäuspassion“ hin und her schaltet.

Und auch Agathe Rousselle, der*die nichtbinäre Hauptdarsteller*in in „Titane“, bekam zur Vorbereitung auf die schwierige Rolle eine ganze Reihe spannender Vorbilder. „Wir haben ein Jahr lang an der Figur von Alexia gearbeitet. Sie hat ja wenig Text, deswegen ging es vor allem um Arbeit mit und an ihrem Körper. Wir haben mit Szenen von Laura Palmer aus ,Twin Peaks“ probiert, aber auch die Auftragsmörderin Villanelle aus der Serie ,Killing Eve‘ war eine wichtige Inspiration. Und Agathe musste Kämpfen lernen, und natürlich das Tanzen.“

Im Zentrum des Films steht dann ein Rollenwechsel: Alexia schlüpft in eine neue Identität, und kommt in ein stark homosoziales Milieu bei der Feuerwehr. Sie findet auch einen neuen Vater, gespielt von dem französischen Superstar Vincent Lindon, der hier auch an die Grenzen seines Images geht.

Ihren Werdegang beschreibt Julia Ducournau in aller Kürze so: „Ich wollte eigentlich Drehbuchautorin werden, denn ich habe immer schon geschrieben. Als ich dann an der Filmschule bei einem Kurzfilm Regie führen musste, begriff ich, dass ich meinem Schreiben nur dann treu bleibe, wenn ich auch selber die Bilder und Töne dazu finde. Wenn ich das nicht selbst umsetze, bleibt meine Arbeit unvollständig.“ Sie hat den Film weitgehend vollständig im Kopf, bevor sie dreht. Sie beschreibt sich als instinktiv und analytisch zugleich. Mit „Titane“ ist sie ihrem Ziel, alle Labels hinter sich zu lassen, einen großen Schritt näher gekommen. Julia Ducournau nennt abschließend einen großen Begriff, an dem sie sich vor allem messen möchte: „Ich ziele auf Modernität. Ich möchte ganz auf der Höhe meiner Zeit sein, und halte es dabei mit dem Dichter Rimbaud: Wir müssen absolut modern sein.“ Modern wie die alten Griechen, könnte man da auch sagen. „Titane“ ist ein moderner Mythos par excellence.

Alle Filmstarts dieser Woche inklusive der tipBerlin-Wertung für „Titane“ findet ihr hier.


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