Interview

Männlich dominierte Festival-Line-ups: „Dass keine Frau dabei ist, fällt oft nicht mal auf“

„Das Line-up wird länger und länger und länger, mehr Platz für noch mehr Männer.“ Diese Textzeilen von Blond aus ihrem Song „Männer“ basierten noch auf gefühlten Fakten, jetzt gibt es dafür eine wissenschaftliche Grundlage. Die Studie „Wer gibt hier den Ton an?“ untersucht die Repräsentanz von Geschlecht auf deutschen Festivalbühnen und kommt zu einem wenig überraschenden Ergebnis: It’s a man’s world! Wir haben mit Rike van Kleef, die die Studie verfasst hat, gesprochen und gefragt: Woran liegt es eigentlich, dass deutsche Festivalbühnen immer noch so eine Pimmelparty sind?

Rike van Kleef lebt in Berlin und ist neben ihrer Arbeit in der Musikbranche als Autorin, Speakerin und Aktivistin tätig. Foto: Fioni Versace

Männliche Festival-Line-ups: ein strukturelles Problem

tipBerlin Rike, wie bist du auf die Idee zu deiner Studie gekommen?

Rike van Kleef Als ich angefangen habe, in der Musikindustrie zu arbeiten, ist mir recht schnell aufgefallen, dass mein Berufseinstieg schwieriger war als der meiner männlichen Kollegen. Es gab gewisse Hürden, Sexismus, Respektlosigkeiten. Ich hatte das Glück, dass ich ganz tolle Kolleginnen innerhalb der Branche kennengelernt habe. Wir haben uns über unsere Erfahrungen ausgetauscht, uns zusammengetan und den gemeinnützigen Verein faemm gegründet. Als ich dann häufiger auf Panels saß, bin ich immer wieder damit konfrontiert worden, dass Menschen dachten, dass wir nur von Einzelfällen sprechen. Oft konnte ich die Leute nicht davon überzeugen, dass es sich dabei um strukturelle Probleme handelt.

Also dachte ich irgendwann: Gut, wenn ihr es schwarz auf weiß braucht, dann halte ich das, was viele von uns schon sehen, jetzt einmal wissenschaftlich fest, damit man etwas hat, womit man arbeiten kann. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung war es meiner Kenntnis nach die erste deutsche Studie dieser Art. Generell gibt es dazu, auch international, bisher wenig vergleichbare Arbeiten. 

tipBerlin Die Diskussion um die Diversität von Festival-Line-ups geht schon seit Jahren immer wieder durch die Branche. Woran liegt es überhaupt, dass sich da trotzdem bisher so wenig verändert hat? Machen Veranstalter:innen es sich einfach zu leicht? Oft wird zum Beispiel immer noch behauptet, es gebe einfach nicht genug weibliche oder queere Acts, die man buchen könnte.

Dass keine Frau dabei ist, fällt denen vielleicht nicht mal auf, bis irgendjemand in der Social-Media-Kommentarspalte sagt: Sagt mal, hakt’s eigentlich? Die buchen einfach immer wieder die Bands, die sie kennen.

Rike van Kleef

Rike van Kleef Ich hasse diese Aussage. (lacht) Da gibt es eine Reihe von Gründen. Zum einen liegt es meines Erachtens an der fehlenden Sensibilisierung von Menschen in Machtpositionen: Die haben ihr Buddy-Netzwerk, die kennen Männer, die Männer kennen und dann ist das Line-up halt voll. Dass keine Frau dabei ist, fällt denen vielleicht nicht mal auf, bis irgendjemand in der Social-Media-Kommentarspalte sagt: Sagt mal, hakt’s eigentlich? Die buchen einfach immer wieder die Bands, die sie kennen. Ich will gar nicht ausschließen, dass es vor allem in etwas nischigeren Genres wirklich weniger FLINTA*-Acts gibt, weil das natürlich auch etwas damit zu tun hat, wie wir aufwachsen, wie wir sozialisiert werden: Wer kommt mit bestimmten Genres überhaupt erst in Kontakt?

Aber ich glaube schon, dass es in vielen Genres wirklich viele gute Acts gibt und man die schon auch finden kann, wenn man sich Mühe gibt. Das ist schließlich auch der Job der Booker:innen. Aber Booking war lange Zeit eine ziemlich männliche Disziplin und einige sagen dann halt, das findet nicht in meiner Blase statt, dazu habe ich keinen Bezug. Oft werden auch ökonomische Gründe genannt, dann heißt es, wir brauchen die männlichen Headliner, weil FLINTA*-Acts weniger ziehen. Im Pop-Bereich kannst du ohne Probleme FLINTA*-Headliner:innen finden, das mag in anderen Genres schwieriger sein – aber wenn man es als Festival ernst meint, könnte man ja auch erstmal damit anfangen, den Mittelbau mit mehr FLINTA*-Acts zu besetzen.

Ergebnisse aus der Studie „Wer gibt hier den Ton an? Über die Repräsentanz von Geschlecht auf deutschen Unterhaltungsmusik-Festivalbühnen“.

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„Mit einer großen Reichweite geht eine gewisse Verantwortung einher“

tipBerlin Welche Festivals hast du dir für die Studie angeschaut?

Rike van Kleef Ich habe mir alle Künstler:innen auf den Line-ups der fünf nach Ticketverkauf größten Festivals in Deutschland aus dem Jahr 2019 angeschaut: „BigCityBeats World Club Dome“, „Parookaville“, „Wacken Open Air“, „Fusion-Festival“ und „Rock Am Ring“. Gerade die „Fusion“ hat ja endlos viele Künstler:innen, das heißt, ich hatte am Ende über 2000 Individuen in meiner Excel-Tabelle. Diese Festivals haben einen großen Einfluss und erreichen wahnsinnig viele Menschen, im Jahr 2019 vereinten allein diese fünf größten Festivals 415.000 Besucher:innen. Ich finde, dass mit einer solchen Reichweite eine gewisse Verantwortung einhergeht. 

tipBerlin Die Ergebnisse deiner Studie sind ziemlich eindeutig: 83,3 Prozent der gebuchten Artists waren männlich. Du hast dir aber nicht nur das binäre Geschlechterverhältnis angeschaut, sondern den Blick generell auf die Erfahrung von FLINTA*-Personen ausgeweitet. Wie bist du dafür vorgegangen? 

Rike van Kleef Mir war es wichtig, nicht nur von Männern und Frauen zu sprechen, weil es eben nicht nur Männer und Frauen gibt, sondern auch nicht-binäre oder genderfluide Menschen. Das nicht zu berücksichtigen, finde ich sowohl menschlich als auch wissenschaftlich falsch, weil es unpräzise ist. Zudem machen trans Personen andere Erfahrungen als cis Männer oder cis Frauen, weshalb ich trans Personen noch ein Sonderkapitel gewidmet habe, um dafür zu sensibilisieren. Wenn Studien das überhaupt berücksichtigen, wurde das in der Vergangenheit häufig methodisch auf sehr problematische Art und Weise gemacht, weil beispielsweise den Vorname verwendet wurde, um die Genderidentität fremdzubestimmen. Ein Vorname sagt aber natürlich nur bedingt etwas über die Genderidentität eines Menschen aus.

Ich habe mir lange Gedanken darüber gemacht, wie ich damit umgehe und das methodisch erfasse, und mich schlussendlich dazu entschieden, nur nach Selbstbestimmung zu gehen. Also musste ich schauen, wo ich eine mehr oder weniger zuverlässige Selbstbestimmung finden kann. Ich habe die Social-Media-Kanäle, Pressetexte, Webseiten, Artikel oder andere Interviews nach Pronomen und Selbstbezeichnungen durchforstet und wirklich versucht, für jedes Individuum, das auf einer der Bühnen stand, einen entsprechenden Nachweis darüber zu finden. Wenn ich keinen Nachweis gefunden habe, habe ich die Personen kontaktiert oder in letzter Konsequenz rausgenommen.

tipBerlin Das klingt sehr aufwendig.

Like van Kleef Ja, die Informationen für Solokünstlerinnen oder Frontsänger zu finden, war nicht so schwer, aber der dritte Bassist aus irgendeiner Metalband, der vielleicht nur unter einem Pseudonym bekannt ist? Das war schon eine Herausforderung und hat ewig gedauert.

„Gerade Männer in der Branche müssen anfangen, diese Gespräche zu führen“

tipBerlin Du hast die Strukturen in der Branche eben schon angesprochen. Was muss sich konkret ändern, damit Festivals diverser werden?

Rike van Kleef Das Allerwichtigste ist Sensibilisierung. Man kann nur dann etwas an der Situation verändern, wenn man ein Auge dafür entwickelt, was schiefläuft. Viele Menschen, die sich damit noch nicht auseinandergesetzt haben, nehmen das gar nicht so wahr. Für mich hat es auch eine Weile gedauert, bis ich gemerkt habe: Komisch, warum bin ich jetzt hier eigentlich die einzige Frau im Raum? Warum werde ich die ganze Zeit unterbrochen? Und warum finden eigentlich alle diese seltsamen „Witze“ über mich lustig und lachen?

Deswegen ist die wichtigste Handlungsempfehlung, die ich geben kann lesen, sich weiterzubilden, sich damit auseinanderzusetzen, sich selbst zu sensibilisieren. Diskussionen zu führen, Kolleginnen zuzuhören. Und dann zu überlegen: Was kann ich aus meiner Position heraus verändern?

Gerade Männer in der Branche müssen anfangen, diese Gespräche zu führen und ihre männlichen Kollegen in die Verantwortung zu nehmen. Die müssen auch mal sagen: Hey, das war ein sexistischer Kommentar, oder: Du hast deine Kollegin übergangen, das ist nicht okay. Das ist das Grundlegendste. Dabei geht es natürlich auch um Machtstrukturen: Wer trifft die Entscheidungen? Werden dabei diverse Perspektiven gehört und mitgedacht?

Und noch weiter gefasst: Wer bekommt eigentlich Geld für welche für Arbeit? Sind die Arbeitsstrukturen und Gehälter fair, wer erhält welche Fördermittel? Gibt es vielleicht die Auflage, eine Awareness-Schulung zu besuchen? Gibt es überhaupt ein Awareness-Team? Da gibt es verschiedenste Schrauben, an denen man drehen kann. Aber der kleinste gemeinsame Nenner wäre, erst mal zu verstehen, dass es überhaupt ein Problem gibt.

tipBerlin Sexualisierte Gewalt ist in der Branche auch immer wieder ein Thema, Stichwort Rammstein.  

Die repräsentative Funktion von Line-ups ist schon an sich relevant, denn die Festivalbranche hat eine wahnsinnige Reichweite und damit einen großen Einfluss auf unsere Gesellschaft

Rike van Kleef

Rike van Kleef Genau deshalb geht es eben nicht nur darum, wer da jetzt auf der Bühne stehen darf oder nicht. Die repräsentative Funktion von Line-ups ist schon an sich relevant, denn die Festivalbranche hat eine wahnsinnige Reichweite und damit einen großen Einfluss auf unsere Gesellschaft. Wir haben dort die Möglichkeit, Themen zu platzieren, zu diskutieren, Utopien zu schaffen, Möglichkeitsräume aufzubauen. Es geht aber auch darum, dass es viele Festivalkontexte gibt, die für FLINTA*-Personen total unsicher sind.

Im letzten Jahr, als die Diskussion um Rammstein losging, haben viele gesagt: „Daran überrascht mich gar nichts“ oder „das wusste man doch“. Da kann man sich schon fragen: Okay, und du hast nicht vorher mal darüber nachgedacht, den Mund aufzumachen? Natürlich gibt es Menschen, die auf Grund ihrer prekären Situation vielleicht zu viel zu verlieren hatten um den Mund auf zu machen, aber es gibt mit Sicherheit auch diejenigen, die aus Bequemlichkeit und Gier weggeschaut haben. Dann gab es einen riesigen Aufschrei, es ist einmal durch die Presse gegangen, aber innerhalb der Branche hat, soweit ich das beurteilen kann, kein hinreichend kritischer Prozess dazu stattgefunden.

Jetzt geht er [Till Lindemann] halt wieder auf Tour, spielt ausverkaufte Shows, alles ist quasi wieder vergessen. Da frage ich mich schon: Wenn das nicht reicht, wie soll sich was ändern? Wobei ich das Gefühl habe, dass sich sich seit vier, fünf Jahren schon etwas verändert, weil unsere Generation schon einen anderen Bezug zu vielen Themen hat.

Männlich dominierte Festivals: Wandel nach der Pandemie

tipBerlin Was hat sich da bereits verändert? 

Rike van Kleef: Es gibt zum Beispiel mehr Bands, die darauf achten, mit welcher Crew sie unterwegs sind oder wie ausgeglichen das Line-up ist, mit dem sie spielen. Oder dass es Festivals gibt, die sich aktiv bemühen, mehr FLINTA*-Personen einzustellen. Vor allem nach Corona konnte man da eine Veränderung beobachten, was vor allem daran lag, dass es einen absoluten Personalmangel gab, weil alle ihre Veranstaltungen mehr oder weniger gleichzeitig nachgeholt haben. Dadurch hatten Leute Möglichkeiten, in andere Positionen reinzukommen.

Meine Wahrnehmung ist aber, dass das schon wieder abflacht. Die Branche steht wirtschaftlich aktuell extrem unter Druck, da verfällt man schnell wieder in die gewohnten Muster und macht das, was einfach ist und was man kennt. Die Strukturen machen es immer noch wahnsinnig schwer. Spätestens sobald eine Kinderverpflichtung dazukommt: Elternschaft ist ein super tabuisiertes Thema in der Branche, die total familienunfreundlich ist. Care-Arbeit wird in Deutschland nun mal in der Regel immer noch von Frauen bzw. gebärenden Personen geleistet. Es tut sich also schon einiges, aber gerade hinter den Kulissen sind wir wirklich noch sehr am Anfang der Diskussion.

Das hat auch generell etwas mit den Arbeitsbedingungen in der Branche zu tun: Ganz lange wurde viel über den Tresen verhandelt, nachts in der Kneipe. Es ist ein People’s Business, du musst ein persönliches Netzwerk haben, um voranzukommen. Deshalb ist es gerade für FLINTA*-Personen oft schwieriger, da reinzukommen. Inzwischen bilden sich mehr und mehr Banden, die dem etwas entgegensetzen, aber die Männer haben natürlich trotzdem noch ihre starken Netzwerke. Dass man viel nachts unterwegs ist, ist nicht nur mit Care-Arbeit schwierig zu vereinbaren, sondern auch ein Sicherheitsrisiko.

Es ist zudem eine Branche, in der nach wie vor viel Alkohol und andere Drogen konsumiert werden. Das heißt, dass die Grenze zwischen dem Privaten und dem Professionellen sehr schnell verschwimmt, was wiederum Machtmissbrauch begünstigt. In all diesen Punkten müssen sich FLINTA*-Personen andere Fragen stellen und haben andere Sicherheitsbedenken. In dieser Auseinandersetzung stehen wir noch ziemlich am Anfang.

tipBerlin Gibt es Festivals, die deiner Meinung nach schon einen guten Job machen, was diverse Line-ups angeht? 

Rike van Kleef: Es gibt auf jeden Fall große Festivals, die zeigen, dass es sehr wohl möglich ist, ein diverses Line-up mit hunderttausenden Besucher:innen auf die Beine zu stellen, das Primavera Sound in Barcelona oder das Roskilde-Festival in Dänemark zum Beispiel. Gerade das Roskilde Festival ist ein sehr gutes Beispiel dafür, dass das auch in einer Vielzahl von Genres möglich ist. Diesen Mut vermisse ich in Deutschland bisher. Man merkt aber, dass sich zum Beispiel auch beim „Reeperbahn Festival“ viel getan hat. Oder beim „MS Dockville“ in Hamburg, das schon seit Jahren zunehmend darauf achtet, das Line-up diverser zu gestalten, und zwar nicht nur im Hinblick auf weiße cis Frauen, sondern gerade auch auf queere Artists und People of Color. Darüber hinaus gibt es eine ganze Reihe an kleineren Festivals, die ihr Line-up mit viel Herzblut kuratieren, wie beispielsweise das „fluid festival“.


Die Studie „Wer gibt hier den Ton an?“ könnt ihr hier lesen.


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