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Interview

Samira El Ouassil und Friedemann Karig über ihr Buch „Erzählende Affen“

Wir denken die Welt in Geschichten. Samira El Ouassil und Friedemann Karig analysieren in ihrem Buch „Erzählende Affen“ die Macht der Narrative: vom griechischen Drama über Netflix-Serien bis zu Verschwörungsmythen. Wir sprachen mit den Sachbuch-Autor:innen und Podcaster:innen („Radiosender Powerplay“) über unser Grundmuster, die Welt in Geschichten zu denken, neoliberales Twitter, den CO2-Fußabdruck und die „Failed Stadt“ Berlin.

Die Macht der Narrative mit den Buchautor:innen Friedemann Karig, Samira El Ouassil: „Der Mensch kann nicht nicht in Geschichten denken“. Foto: Nils Schwarz

Samira El Ouassil: „Wir ertragen unsere Existenz in Sinnlosigkeit nur schwer“

tipBerlin Samira El Ouassil, Friedemann Karig, Ihr Buch handelt von Geschichten. Dieses Interview hat auch eine Vorgeschichte. Sie beide sind gerade in München, ich in Berlin. Wir reden jetzt aber fünf Stunden nach unserem ursprünglich verabredeten Zoom-Termin. Was ist denn vorhin dazwischengekommen?

Samira El Ouassil Ich wollte eine kleine Überraschungsmission starten, deshalb saßen wir beide vor fünf Stunden im Auto auf dem Weg zum Flugplatz. Mein Plan war es, mit Friedemann Fallschirmspringen zu gehen, zur Feier des Bucherscheinens. Leider war heute wahnsinnig dichter Nebel.

Friedemann Karig Und ich weiß immer noch nicht, ob ich das bedauern soll.

tipBerlin Wie kamen Sie für das Buch gerade auf das Thema der Narrative?

Friedemann Karig Der Mensch kann nicht nicht in Geschichten denken. Alles, was wir in der Welt wahrnehmen, packen wir dieses Grundmuster: Jemand handelt, etwas steht dem im Weg, es gibt einen Konflikt, es gibt einen nächsten Zustand – eine Lösung, eine Eskalation. Im Buch fragen wir uns: Was bedeutet das für Gesellschaften und Politik?

Samira El Ouassil Schlussendlich sind Narrative der Versuch, die sehr willkürliche Wirklichkeit mit Sinn für uns aufzuladen, um sie besser begreifen zu können. Wir ertragen unsere Existenz in Sinnlosigkeit nur schwer.

Die Macht der Narrative: „Langweilt nicht!“

tipBerlin Ist das Buch aus Ihrem gemeinsamen Podcast „Piratensender Powerplay“ entstanden? Dass Sie den letztes Jahr ausgerechnet mitten im Shutdown gestartet habt, ist ja schon mal ein guter Anfang für die Geschichte.

Friedemann Karig Eigentlich ist das natürlich ein Marketing-Eigentor. In dem Moment, wo alle Leute einen Podcast starteten, haben wir auch noch einen angefangen. Als dann das Buch kam, war schnell klar, dass wir nicht den Podcast verschriftlichen, sondern einen Teil davon in ein Buch überführen wollen.

tipBerlin Sie verarbeiten sehr viele Wissenschaftsliteratur, aber auch reichlich Popkultur: Filme, Serien. Ich habe den leisen Verdacht, dass Sie mit dem Buch auch Ihren ziemlich beeindruckenden Power-Konsum diverser Streamingdienste nachträglich rechtfertigen wollten.

Friedemann Karig Das Buch war nur eine große Ausrede, um noch mal alle Serien gucken zu können und das dann Arbeit zu nennen (lacht). Und andererseits: Es gibt nichts Schlimmeres als betont gelehrte, aber staubtrockene Bücher. Wir glauben fest daran, dass es für Bücher wie Podcasts nur eine wichtige Regel gibt: Langeweilt nicht!

Twitter ist neoliberal

tipBerlin Charlie Brooker, der die Serie „Black Mirror“ erfand, setzt auf Platz 1 der Liste der 25 Spiele, die die Welt verändert haben, Twitter – das er ein „Massen-Online-Gesellschaftsspiel“ nennt.

Samira El Ouassil Soziale Medien insgesamt sind im Grunde interaktive Heldenreisen, die wir nicht nur schriftlich performativ im digitalen Raum konstituieren, sondern auf die wir unmittelbar Feedback bekommen und daraufhin im Spiegel einer digitalen Öffentlichkeit nochmal an unserer von uns selbst erzählten Geschichte, unserer Heldenreise schrauben können.

tipBerlin Auf Twitter performen wir Erzählungen von uns selbst. Wieviel Leistungsdenken steckt in den sozialen Netzwerken? 

Friedemann Karig Das, was da programmiert wird, heißt nicht umsonst „Addictive Design“. Und auf der anderen Seite, da fangen wir ja gerade in Deutschland eine neue Diskussion an: Es sind turbokapitalistische, super profitgetriebene Unternehmen.

Samira El Ouassil Hinzu kommt, dass die gegenseitige Bewertung lukrativ ist für die Plattformanbieter. Wir befinden uns also nicht nur in einer Kompetition der Selbstrepräsentation, sondern auch in der Kompetition, ob wir dafür eine gesellschaftliche Validierung erhalten: Bekommen wir Likes, wird das geteilt, sind wir erfolgreich? Und das hat ein enormes neoliberales leistungsorientiertes Dispositiv.

Keine Lust mehr, über Urlaubsflüge zu diskutieren

tipBerlin Welche Rolle spielen die Ein-Wort-Narrative? Wohlstand, Klimawandel, CO2-Abdruck.

Friedemann Karig Wir leben in einer Welt von manipulativen Geschichten, aber wir reflektieren sie noch nicht. Der CO2-Abdruck ist eine Erfindung von BP, dem Ölkonzern, mit dem rein strategischen Ziel, die Ursächlichkeit des Klimawandels und die Verantwortlichkeit weg von den Profiteuren hin zum Individuum zu verschieben. Und ich glaube, die waren damit leider sehr erfolgreich.

tipBerlin Wie gehen Sie damit persönlich mit dem Thema Nachhaltigkeit um?

Samira El Ouassil Für mich war vor allem relevant, die Systemik zu erkennen, die davon profitiert, wenn ich glaube, dass ich ganz allein Klimaheldin sein könnte, wenn ich jetzt die Plastiktüte weglasse oder besonders aufmerksam meinen Müll trenne. Mein Erkenntnisprozess war, weg vom persönlichen Individual-Weltrettungspathos hin zu einem nüchternen Verständnis zu gehen, wie systemisch und wie global das Problem ist. Das bedingt, dass ich dadurch wesentlich politisierter wurde.

Friedemann Karig Ich würde sogar sagen, ich habe mich politisch radikalisiert, im wörtlichen Sinne von: an die Wurzeln gehend. Ich habe keine Lust mehr, im Freundeskreis über Urlaubsflüge zu diskutieren. Nein, ich will darüber diskutieren, was die Luftfahrtindustrie für immense Subventionen bekommt.

Boris Palmer, trau dich nach Berlin!

tipBerlin Ein anderes Thema in Ihrem Buch: Verschwörungstheorien, Youtube-Radikalisierungen. Wo auf eine Art sehr verführerische Geschichten erzählt werden.

Samira El Ouassil Es sind die verführerischeren Geschichten, weil es leider auch die effizienteren Geschichten sind. Und wenn man sich beispielsweise die Erzählungen von QAnon anschaut, die 2017 in einem Forum mit einer Person anfing, die sich als Deep-State-Geheimagentvertreter inszenierte, dann ist das eigentlich eine James-Bond-Erzählung, ein Spionage-Thriller.

tipBerlin Eines der beliebtesten Berlin-Narrative heißt „Failed Stadt“. Wird diese Geschichte durch ständige Wiederholung besser oder egaler?

Samira El Ouassil Sie wird leider wirksamer. Aber ich als Münchnerin kann das so überhaupt nicht teilen. Ich habe eine rein touristische Perspektive auf die Stadt. Berlin erfüllt mich jedes Mal mit Glück und Freude.

Friedemann Karig Ich habe letzte Woche meinen Reisepass verlängern lassen. Innerhalb von zwei Stunden saß ich auf einem Amt einer sehr netten Dame gegenüber. Ich werde ihn nächste Woche abholen. Das war einer der Momente, wo ich innerlich sagen möchte: Boris Palmer, trau dich mal aus deiner schwäbischen Kleinstadt hier her: Du wirst etwas ganz anderes sehen, als du denkst.

tipBerlin Ich glaube nicht, dass ich für dieses Interview noch ein besseres Happy-End hinkriege als das. Danke also für das Gespräch.

Über Samira El Ouassil und Friedemann Karig

Samira El Ouassil ist Buchautorin, Kolumnistin („Übermedien“, Spiegel.de), Sängerin der Band Kummer, Podcasterin („Sag niemals Nietzsche”). Die Münchnerin war 2009 dann nicht zugelassene Kanzlerkandidatin der Partei Die Partei (deren Chef Martin Sonneborn zuletzt bei der Abgeordnetenhauswahl in Berlin antrat).

Friedemann Karig lebt in Berlin und ist Journalist, Buchautor („Wie wir lieben. Vom Ende der Monogamie”, „Dschungel”), Moderator („Jäger&Sammler“, ARD/ZDF) und Podcaster.

„Piratensender Powerplay“ Beide betreiben seit 2020 gemeinsam den Podcast, der nach dem 1982er-Film mit Thomas Gottschalk und Mike Krüger benannt ist.

„Erzählende Affen“ und die Berliner Buchpremiere

  • Samira El Ouassil & Friedemann Karig: „Erzählende Affen. Mythen, Lügen, Utopien“ Ullstein, 528 S., 25 €
  • Berliner Buchpremiere Literatur LIVE im Pfefferberg Theater, Schönhauser Alle 176, Prenzlauer Berg, Di 9.11., 20 Uhr, Tickets: 12 € (Abendkasse)

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