Zu voll, wenig Personal, überholtes System: Im Krankenhaus des Maßregelvollzugs, wo psychisch kranke Gesetzesbrecher einsitzen, werden womöglich Menschenrechte verletzt. Die schlimme Lage beschäftigt mittlerweile auch die Senatsverwaltung für Gesundheit – doch Krankenhausmitarbeiter zweifeln daran, ob den politisch handelnden Personen das Ausmaß der Probleme überhaupt bewusst ist. Über eine Institution in Not.
Die Anstalt, die als Ort des Horrors beschrieben wird, steht im äußeren Nordwesten der Stadt. Ein Baukomplex in Wittenau ist das Krankenhaus des Maßregelvollzugs, umgeben von trutzigen Bäumen. Wer den ärztlichen Leiter treffen will, muss ins Haus 2, ein Objekt mit dicken Gemäuern aus Backstein. Am Eingangsbereich ist Nato-Draht befestigt, und bevor man das Innere des Gebäudes erreicht, müssen Leute vom Sicherheitspersonal mehrmals schwere Türen öffnen. Es handelt sich um den Zutritt in eine gesellschaftliche Randzone.
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„Die Lage ist eskaliert“, sagt Sven Reiners, der Klinikchef, Bart und ausdrucksstarke Hornbrille, kurz darauf in seinem Büro. Schreibtisch, Akten, Regal mit Fachbüchern: ein fast gewöhnliches Interieur. Der ende 40-jährige ist forensischer Psychiater, vor allem aber Mangelverwalter.
Im Krankenhaus des Maßregelvollzugs fristen psychisch kranke Rechtsbrecher ihr Dasein. Häufig leiden sie unter Schizophrenie, schweren Persönlichkeitsstörungen oder Suchtkrankheiten. Mörder und Vergewaltiger, aber auch Leute, die weniger schwere Delikte begangen haben, etwa Diebstähle. Zwei Formeln kennt das Rechtssystem für Delinquenten, die im Maßregelvollzug behandelt werden. Fehlende oder verminderte Schuldfähigkeit.
Sven Reiners berichtet von Patienten, die zu fünft in 38-Quadratmeter-Zimmer gepfercht sind, obwohl diese Räume nur für zwei Leute angelegt sind. Klaustrophobie, die einige Inhaftierte über Jahre hinweg ertragen müssen. „Menschenunwürdig“ bezeichnet er solche Bedingungen. Er beklagt üblen Personalmangel. Und er kommentiert zwei Gewaltvorfälle, die diese Institution schon vor ein paar Jahren in die Schlagzeilen katapultiert hatten. In den Jahren 2018 und 2020 war ein Bewohner jeweils auf Ärztinnen mit einem Messer losgegangen. Im Februar 2021 hatte ein Bewohner sich erhängt und selbst angezündet– ein Suizidversuch. Super-GAUs, die geschahen, bevor Sven Reiners im März 2021 sein Amt antrat; zuvor war er Normalo-Arzt im Krankenhaus gewesen. „Dramatische Vorfälle, die uns sehr besorgt haben“, sagt er.
Maßregelvollzug in Berlin: Klaustrophobie und Gewalt
Ein anderes Malheur: Das Krankenhaus kann nicht jeden Verurteilten aufnehmen. So ist zuletzt wegen Platzmangels ein kokainabhängiges Mitglied der Remmo-Familie wieder aus der Haft entlassen worden. Das Versagen empörte das wutbürgerlich-konservative Stadtmilieu.
Jüngst mündeten die Verhältnisse im republikweit größten Maßregelvollzug in einen Aufschrei. Im Januar setzte es einen Brandbrief der Berliner Ärztekammer. „Erschreckend und nicht länger hinnehmbar“ seien die Zustände, ließ Peter Bobbert, der Präsident, wissen. Schon im November 2022 gab es ein Schreiben des Personalrats der Klinik. Die Arbeitsbedingungen seien „zunehmend gefährlich“. Viele Patienten würden nur „verwahrt“.
Längst ist unter Kritikern davon die Rede, dass UN-Menschenrechtskonventionen gebrochen werden könnten.
Das Fiasko ereignet sich auf einem Areal, das Psychiatrie-Geschichte spiegelt. Die Klinikbauten sind größtenteils historische Gebäude, die im 19. Jahrhundert errichtet worden sind. Als „Irrenanstalt der Stadt Berlin zu Dalldorf“ ist der Nukleus des Ensembles entstanden. In der Weimarer Republik haben Hippokraten dort in den „Wittenauer Heilstätten“ ihren Dienst getan. Während des nationalsozialistischen Regimes beteiligten sich dortige Ärzte an den schlimmsten Verbrechen; im Zuge von Euthanasieprogrammen und Holocaust wurden zahllose Menschen getötet oder deportiert. In der Nachkriegszeit firmierte an diesem Ort die Karl-Dietrich-Bonhoeffer-Nervenklink. Das Krankenhaus des Maßregelvollzugs ist auf dem Gelände seit 1996 zuhause.
Sven Reiners, der oberste Mediziner, veranschaulicht die aktuelle Misere. Eigentlich gebe es 550 Betten; doch zurzeit sind 610 Leute untergebracht. Immer wieder kommt es zu Schlägereien. Von 53 Arztstellen seien zurzeit 6,6 unbesetzt, sagt Reiners. Beim Pflegepersonal fehlen knapp 90 Fachkräfte.
Katastrophale Bedingungen im Maßregelvollzug in Berlin: „Emotional zu belastend“
Ganz aktuell berichtet der rbb von zahlreichen Konflikten mit dem Personal. Habe es 2019 nur 138 Konfliktmeldungen durch das Personal gegeben, seien es laut Personalrat im vergangenen Jahr schon 712 Fälle gewesen. Eine Steigerung um das Fünffache. Dabei geht es hauptsächlich um Sachbeschädigungen (122), Bedrohungen (118) und Beleidigungen (111). Aber auch um Körperverletzungen (94), versuchte Körperverletzunge (55) und sexuelle Übergriffe auf Pflegekräfte.
Zum Zeitpunkt der tipBerlin-Recherche hätte der Reporter gern selbst das Klima auf den Stationen erlebt, doch Sven Reiners erteilte eine Absage. „Emotional zu belastend“ sei die Begegnung mit Medienvertretern für die Patienten.
Die Senatsverwaltung für Gesundheit ist alarmiert, zumindest ein bisschen. Sie will 60 neue Betten auf dem Areal einrichten, außerdem dortige Jobs lukrativer machen, vielleicht mit Zulagen. Die Beamten wollen sogar Liegenschaften erwerben. Ein Bündel von Soforthilfen. Zugleich ist ein Masterplan namens „KMV 2040“ in Entwicklung, der noch nicht spruchreif ist.
In einem erneuerten Gebäude sind Stand heute zwölf Betten mehr geschaffen worden. Doch der Effekt solcher Akutmaßnahmen ist womöglich nur klein. Weil der Maßregelvollzug, wie er hierzulande praktiziert wird, ein unrettbares System sein könnte.
Maßregelvollzug in Berlin: Ärzte stellen Grundsatzfragen
In diesem Gewerbe hadert ein Berufsstand mit den Grundlagen seiner Profession. Einen Eindruck bekam man Mitte Juni an der Charité. Dort haben sich Koryphäen aus ganz Deutschland zur „26. Berliner Juni-Tagung für Forensische Psychiatrie und Psychologie“ versammelt. Das Thema des eintägigen Kongresses im Langenbeck-Virchow-Haus, dem Veranstaltungszentrum der Charité, lässt kollektive Unsicherheit erahnen: „Abschaffung des psychiatrischen Maßregelvollzugs? Oder Reform und Ertüchtigung?“
Um den Frust zu verstehen, hilft der Blick auf Statistik: Die Zahl der Menschen im Maßregelvollzug ist explodiert. 1995 waren bundesweit 2.902 Menschen im Maßregelvollzug. Laut einer „Buzzfeed“-Recherche sind es 2021 mehr als 13.000 gewesen.
Die Überlastung spitzt sich zu vorm Hintergrund einer ethischen Diskussion. Davon zeugt eine Demo vor dem Eingang des Langenbeck-Virchow-Hauses während der besagten Konferenz. Dabei sind Leute mit Psychiatrie-Erfahrungen, deren Angehörige und andere Sympathisanten. Viele tragen Banner, darauf prangt etwa der Slogan „Gewaltfreie Psychiatrie JETZT!“. Die Protestler recken auch Schilder in die Höhe, nachempfunden einem Verbotszeichen. Gestrichen werden soll ein Paragraf im Strafgesetzbuch.
Gemeint ist Paragraf 63. Er regelt die Überweisung in den Maßregelvollzug, wenn einem Verurteilten ein psychisches Gebrechen bescheinigt wird, das zu fehlender oder verminderter Schuldfähigkeit führt. Dieser Passus erlaubt auch die berüchtigten „Zwangsmaßnahmen“. Fixierungen, Isolierzelle und Psychopharmaka. Ergänzt wird das Gesetz um den Paragrafen 64. Er verordnet dasselbe Verfahren für suchtkranke Täter. Zudem können Menschen im Maßregelvollzug auf der Basis der geltenden Gesetze beliebig lang festgesetzt werden. In der Theorie jedenfalls.
Eine weniger exzessive Ausreizung der juristischen Spielräume könnte den Maßregelvollzug entlasten, auch in Berlin.
Maßregelvollzug in Berlin: Die juristischen Spielräume
Am besten redet man mit einer Fachfrau, die auch die Charité-Konferenz besucht. Patricia di Tolla, 68, war beim Unionhilfswerk für die Psychosozialen Dienste in Neukölln und Treptow zuständig; heute nennt sie sich „Menschenrechtsaktivistin“. Während eines Gesprächs auf dem geräumigen Balkon des Langenbeck-Virchow-Hauses erläutert sie: „Die Einrichtungen des Maßregelvollzugs sind unter anderem deshalb so voll, weil sich viele Richter und Psychiater nicht trauen, Entlassungen von Patienten anzustreben – auch wenn sie aus forensischer Sicht vertretbar wären.“ Der Grund: Sie fürchten das negative Echo in peer groups und der Öffentlichkeit, wenn eine entlassene Person ein krasses Delikt begeht. Ein Risiko, das allermeistens maßlos überschätzt werde, findet di Tolla. Sie sagt auch, dass psychisch Kranke oft wegen Bagatellen kaserniert würden.
Es gibt weitere Hypothesen für den Kollaps. Jede Menge hustle verursacht demzufolge auch der Paragraf 64, der für Suchtkranke gedacht ist. Er wird instrumentalisiert: Strafverteidiger beharren in Prozessen immer wieder auf der fehlenden oder verminderten Schuldfähigkeit ihrer Mandanten – indem sie deren Taten mit einem „Hang zum Drogenkonsum“ erklären. Falls das Gericht dieser Rabulistik folgt, winkt im Maßregelvollzug eine frühere Entlassung, als wenn ein Robenträger den Straftäter in der JVA einbuchten würde. Dabei ist es Interpretationssache, wie arg jemand durch eine Droge vernebelt ist – ein Feld, das den Wahn eines Alkoholikers umspannt wie ein paar MDMA-Spuren im Blut. Das Bundesjustizministerium tüftelt an einem Gesetzesentwurf, der den Missbrauch des Paragrafen 64 erschweren soll.
Maßregelvollzug in Berlin: Neue Ära in weiter Ferne
Ein Papier, das eine Revolution anzetteln soll, wird auf dem Charité-Kongress präsentiert. Es stammt von der „Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie“ (DGSP), zu deren Mitstreitern auch Patricia di Tolla gehört, die Frau von der Basis. Das Sprachrohr auf der Tagung ist ein Jurist und Theologe aus Münster, Mitte 70. Gefordert wird ein Ende des Maßregelvollzugs. Das Gegenmodell: dass die Patienten in JVAs gebracht werden. Gefängnisse, die der Staat passend ausstatten soll, mit Räumen und therapeutischen Angeboten. Und einer Exekutive, die weniger Zwang ausübt. Gefährliche Individuen, deren Krankheit kein Dr. Psycho mildern kann, sollen derweil in Sicherungsverwahrungen. High-Security-Trakte, die zurzeit schon in Abteilungen der Justizvollzugsanstalten angesiedelt sind. In Berlin gibt es ein solches Alcatraz in der JVA Tegel.
Wie soll der Systemwechsel finanziert werden?
Sven Reiners, Oberhaupt einer Großinstitution, räumt ein: „Man muss den Maßregelvollzug immer kritisch hinterfragen.“ Er bezweifelt aber, ob ein knauseriger Staat die JVA-Infrastruktur erweitern könnte. Schuldunfähige Rechtsbrecher in herkömmliche Gefängnisse zu stecken, hält er zudem für einen „schweren gesellschaftlichen und humanistischen Rückschritt“. Stattdessen wünscht er sich kleinere Stationen sowie mehr ambulante Therapie, etwa für Drogenabhängige, die beschaffungskriminell geworden sind.
Fest steht: Der Maßregelvollzug ist ein Unort, der auch den Belegschaften nicht behagt – und eine neue Ära in weiter Ferne.
In Berlin sind selbst die Akuthilfen, in Aussicht gestellt von der Senatsverwaltung für Gesundheit, offenbar nur Kleinklein. „Die hoheitliche Aufgabe der Besserung und Sicherung der Patienten ist aus unserer Sicht selbst bei einer Umsetzung der Maßnahmen nicht annähernd gewährleistet“, meldet ein Sprecher des Personalrats. Jenes Gremium aus dem Krankenhaus des Maßregelvollzugs, dessen Mitglieder noch offener reden als eine Alpha-Figur wie Sven Reiners. Es klingt wie ein verzweifelter SOS-Ruf.
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Wo heute das Krankenhaus für Maßregelvollzug steht, befand sich in der Nachkriegszeit die Karl-Dietrich-Bonhoeffer-Nervenklinik. Während der nationalsozialistischen Diktatur tätigten Mediziner in dem Gebäude-Ensemble üble Menschenexperimente. Die Probleme des heutigen Maßregelvollzugs, wie er in Wittenau praktiziert wird, sind der Politik schon länger bekannt – doch eine Rettungsaktion ist bis heute ausgeblieben. Wer übrigens zufälligerweise in der Öffentlichkeit einen Menschen mit einem psychischen Zusammenbruch bemerkt, kann mit ein paar Kniffen zumindest ein paar erste Notmaßnahmen in die Wege leiten.