• Stadtleben
  • Neu in Berlin? Was sich Zugezogene zu schnell abschauen

Berlin verstehen

Neu in Berlin? Was sich Zugezogene zu schnell abschauen

Berlin verändert euch. Ein paar Tage reichen, um euch zu beziehungsunfähigen, dauermäkelnden, Lokalpatriot:innen zu machen. Die Berlinifizierung beginnt bei der Kleidung und endet bei gescheiterten Lebensentwürfen. Klingt tragisch? Viele Menschen lockt die Hauptstadt trotzdem, immerhin sind gut 1,7 Millionen Bewohner:innen zugezogen – Tendenz steigend. Egal ob in Madrid oder Magdeburg: Die Hauptstadt ist attraktiv. Welche Spleens sich Zugezogene in Berlin besonders schnell aneignen, haben wir für euch aufgeschrieben.


Die Stadtteil-Arroganz

Mein Viertel, mein Block – wer sich als Zugezogener erst einmal auf absehbare Zeit niedergelassen hat, beginnt, seinen Stadtteil als Teil der Identität zu begreifen. Foto: Imago/F. Anthea Schaap

Gut, es dauert manchmal ein bisschen (und manchmal Jahre), bis wir eine Wohnung gefunden haben, in der wir auch langfristig bleiben können. Aber sobald der Zugezogene sich erst einmal häuslich eingerichtet hat, entwickelt er oft eine religiöse Zuneigung zu seinem Stadtteil. Ob nun die Ordnung Charlottenburgs oder das Chaos Neuköllns: Schnell wird die Lebenssituation zur bestmöglichen umgedeutet und fortan gilt: Mein Block, mein Viertel – und sonst nichts. Je länger Menschen in einem Kiez leben, umso schwerer freunden sie sich mit neuen an. Da wird sogar der Wechsel von Neukölln nach Kreuzberg zur Probe.


Die Hoffnung auf Liebe aufgeben

Gemeinsam alt werden? Geile Nummer, aber in Berlin ist die Partner*innensuche nicht leichter als anderswo. Im Gegenteil. Foto: Imago/Seeliger

Mit Tourist:innen sind gern mal mehr als vier Millionen Menschen in der Stadt. Frisch angekommen haben Zugezogene vielleicht noch einen gewissen Optimismus im Gepäck: Hat es in Hamm angesichts der deutlich geringeren Anzahl potenzieller brauchbarer Partner:innen noch finster ausgesehen mit der Liebe, muss es doch in Berlin klappen! So viel Auswahl!

Leider, das muss man so sagen, sind die meisten aber irgendwie defekt. Bindungsängstlich, abenteuerlustig, mit Ballast, ohne Substanz, beziehungsunfähig. In Berlin sind laut einer Studie der Marktforschungsgesellschaft GfK fast 49 Prozent der Menschen Singles. Zwar liegen München und Köln knapp dadrüber, besser macht es die Situation aber nicht. Nach dem 341. schlechten Tinder-Date ist dann auch der letzte Optimismus dahin. Ab ins Kitkat. Und wer erst einmal einen neuen Partner-in-crime braucht – Freunde finden via App: Digitale Mittel gegen analoge Einsamkeit.


Wartebereitschaft

Anstehen für eine Reiseauskunft? Kultiviert. Anstehen für Kebap? Touri-Doofheit. Foto: Imago/Friedel

Ob nun vorm Berghain oder für die Berlinale: Anstehen ist in Berlin Ehrensache, Die Einwohner:innen akzeptieren schweigend. dass sie nun einmal in einer populären Stadt leben, in der populäre Dinge geschehen. Allerdings selektieren sie auch hart: Während das Anstehen für Kulturevents zum Beispiel absolut in Ordnung ist, würden sie sich niemals für Gemüse-Kebap am Mehringdamm einreihen – denn alle kennen mindestens einen Kebap-Laden in der Stadt, der genauso gut ist, aber eben nicht vor Touri-Horden belagert wird. Beliebt, aber nicht beliebig, quasi.


Das Haus niemals für Banalitäten verlassen

„Ha, klaar“: Die Reaktion, wenn Zugezogene nach ein paar Monaten jemand fragt, ob sie für ein kurzes Treffen nochmal das Haus verlassen. Foto: Imago/Westend61

Zu Beginn ist das Angebot in Berlin beängstigend groß. Neu-Berliner:innen leiden aufgrund dieses Grundrauschens schnell unter dem „FOMO“-Syndrom, der „Fear of missing out“, also Verpass-Angst. Das dreht sich schnell. Denn nach wenigen Wochen oder Monaten werden sie wählerisch – und dann knüppelhart. Weil jeden Tag 72 Galerien ihre exklusive Ausstellungen haben, 23 Konzerte gespielt werden und sieben grobe Bekannte Geburtstag haben, bleiben sie einfach gleich Zuhause. Entweder es ist etwas wirklich Besonderes – oder nicht der Rede wert.


Den absoluten Geheimtipp haben

Die beste Pizza der Welt gibt es in Kreuzberg. Und in Spandau. Und in Lichtenberg. Neukölln sowieso. Und Friedrichshain erst! Foto: Imago/Westend61

Wenn Menschen zusammenkommen, die ein paar Monate in Berlin gelebt haben, und jemand zum Beispiel eine kulinarische Richtung erwähnt, passiert eigentlich immer das: Alle Anwesenden rufen ihre liebsten Restaurants in die Runde und beharren dann eisern darauf, dass es wirklich genau dort das beste Sushi, die beste Pizza, die beste Schweinshaxe gibt. In der Regel beteuert man sich dann gegenseitig, gemeinsam auch mal die anderen auszuprobieren. Und macht es dann doch nie. Wozu auch, das beste Pad Thai gibt es nun mal zufällig im eigenen Kiez. Ist wie Großmutters Küche.


Sonderbare Sonderwünsche

Und wenn ich meinen laktosefreien Mandelmilch-Matcha-Kaffee im Liegen trinken will, dann tue ich das auch. Foto: Imago/Westend61

Ja, es ist wahr: In Großstädten bestellen überdurchschnittlich viele Menschen irgendwelche abstrakten Milch-Variationen, wollen ihre Donuts vegan und zuckerfrei und weisen den Kellner freundlich auf ihre Kaviarunverträglichkeit hin. Warum tun sie das? Nicht, wie man schnell annehmen könnte, aus Abgrenzungsfetischismus. Sondern weil sie es können. Wer seinen Matcha Latte mit fettarmer Mandelmilch plus koffeinfreiem Espresso-Shot ordert, tut dies wahrscheinlich, weil es der Person so eben am besten schmeckt.

Das lernen wir schnell: Weil es ohnehin keine Sau interessiert, was in unserem Kaffeebecher ist, brauchen wir uns auch nicht unnötig zu profilieren. Genießen aber eben den Luxus, Sonderwünsche zu haben, für die man uns in Neustadt am Rübenberge vielleicht noch fragend angeschaut hätte.


Lose Verabredungen

„Das war toll, sehen wir uns bald wieder?“ „Ja ganz bestimmt!“ Is klar. Foto: Imago/Zoonar

Ständig will sich irgendwer irgendwo mit einem treffen. Als Neuling findet man das sicher ganz toll und hastet vom trendy Café zur coolen Party zum stylishsten Vintage-Shop und so weiter. Irgendwann passt man sich aber der Masse der Alteingesessenen an. Anstatt sich für „nächsten Freitag“ zu verabreden, verabredet man sich für „bald mal“. Dann haben theoretisch beide die Verantwortung, dieses Treffen dann irgendwann mal zu organisieren. Aber auch beide die praktische Möglichkeit, diese nie zu anzunehmen. Bis man sich dann beim nächsten zufälligen Treffen wieder für „demnächst mal“ verabredet.


Schlecht machen

Das Soho-House. Bestimmt gar nicht so geil, wie alle sagen. Und übrigens auch nicht im hippen Mitte, sondern im schwäbischen Prenzlauer Berg. Das bestätigt euch jeder Stadtplan. Foto: Imago/Schöning

In Berlin findet immer irgendwas statt, zu dem nur ein paar Leutchen dürfen, die irgendwie wichtig sind. Und wir nicht. Was tun wir also? Wir finden die Ausstellung überbewertet, wollen ja gar nicht ins Berghain und die Leute im Soho-House humorbefreit und sehen es nachträglich quasi als Geschenk, dass wir nicht dabei waren. Das Talent, verpasste Chancen durch eine leichte Herabwürdigung weniger schwer zu nehmen, ist ja schon fast sowas wie Optimismus. Übrigens, wer die Leute vom Soho House ärgern will, erinnert sie daran, dass der feine Club laut Stadtplan gar nicht im hippen Mitte, sondern im inzwischen doch recht biederen Prenzlauer Berg steht.


Sehr lange abwägen, ob die Reise lohnt

„Heute Abend Lust auf einen Drink? Müssten allerdings nach Spandau fahren?“ *tut tut tut* Foto: Imago/STPP

Am Anfang sind Zugezogene noch motiviert, die Welt – also Berlin – zu entdecken. Nach ein, zwei Monaten im öffentlichen Nahverkehr oder im Stau oder auf dem Rad, umgeben von Idioten, fangen wir langsam an, erst einmal zu fragen: Dieses Restaurant, wo ist das genau? Der Film, läuft der wirklich nur in DEM Kino? Ist das nicht schon dein zweites Kind, sieht das nicht genauso aus wie das erste?

Wir fragen das, weil wir keine Lust mehr haben, lange Anreisen in Kauf zu nehmen für alles, was nicht absolut überlebenswichtig ist. Sobald die BVG-App uns anzeigt, dass wir einmal umsteigen müssen, zögern wird. Bei zwei Mal sind wir raus. 40 Minuten mit dem Auto? Da kann ich ja gleich an die Ostsee fahren, quasi. Die Reise-Unlust geht dabei einher mit der Stadtteil-Arroganz, beides befähigt sich gegenseitig. Aus der Erkenntnis, dass alles vor der Haustür liegt, folgt die Unlust, weit zu fahren. Simpel.


Dunkle Kleidung tragen

Schwarz geht immer in Berlin, und manchmal ist es auch die einzige Option. Foto: Imago/Addictive Stock

Das mag vielleicht niemanden betreffen, der von Wilmersdorf nach Charlottenburg ein Taxi ruft. Aber alle, die in Berlin ausgehen, Bahnfahren, ein bisschen wildes Nachtleben mitnehmen wollen, gibt es eigentlich nur eine Option: dunkle Kleidung. Denn, das müssen wir zugeben, Berlin ist manchmal einfach ein bisschen siffig. Und auf dem weißen Kostüm sieht man eben jeden Fleck.

Deshalb ist belastbare Mode, die nicht jeden stillen Zeugen der vergangenen Nacht zum unfreiwilligen Mittelpunkt des Ensembles macht, entscheidend. Das erklärt dann auch, warum zum Beispiel im Berghain schwarz so populär ist. Übrigens noch so ein Spleen: Nach ein paar Wochen wird es völlig egal, was man anzieht, wenn man nur kurz rauswill? Im Pyjama zu Penny? Schockt dann auch keinen mehr.


Partys politisieren

Raven schön und gut, aber bitte nicht unnötig überhöhen. Ja, in Berlin ist Feiern oft auch politisch. Aber nicht jedes Mal, wenn du drauf bist, trägt das zu einer besseren Welt bei. Sorry. Foto: Imago/Serienlicht

Richtig ist, dass Berliner Clubkultur mehr ist als nur ein bisschen Feiern. In keiner anderen deutschen Stadt gibt es so viele Feiern, die auf spezielle Gruppen und Interessen ausgelegt sind – und somit sichere Räume auch für jene Menschen bieten, die sonst öfter mal Diskriminierungen ausgesetzt sind. Soweit so gut.

Allerdings gibt es in Berlin auch viele Leute, die nach kurzer Zeit tatsächlich grundsätzlich politisch und relevant finden, dass sie zu jedem Rave gehen, von dem sie in ihrer WhatsApp-Gruppe hören. Und da geht es dann los: Nicht jedes Mal, wenn man im Wald bei irgendeiner illegalen Partys Pillen wirft und druff die Arme in die Luft wird, ist das irgendwie von Bedeutung.

Relativ häufig ist es sogar nur schlichter Hedonismus, oft genug auch einfach nur Bock auf Ballern statt das Vorantreiben des gesellschaftlichen Fortschritts in Bassform, hat unser Autor Tim Kröplin bei einem Demo-Marathon live erlebt. Das ist nicht schlimm. Aber „ich war drei Tage wach“ ist in aller Regel eben doch kein Ausdruck einer besonderen Persönlichkeit. Sondern eben das, was passiert, wenn du die Speed-Bag genauso häufig öffnest wie sonst dein Instagram.


Rausfahren

„Wat is dat schön hier!“ Foto: Imago/Panthermedia

Am Anfang berauscht die Stadt Zugezogene. Dass man angekommen ist, bemerkt man dann daran, dass man auch mal Abstand nehmen will. Und plötzlich sucht man nach Ausflugstipps für Brandenburg oder dem schnellsten Weg an die Ostsee. Um danach allen, die es hören wollen (und allen anderen auch) zu erzählen, wie waaaaaahnsinnig gut das tut, mal aus Berlin rauszukommen. Allerdings sollte man dann auch möglichst schnell betonen, dass man am Abend dann doch noch in diesem neuen fancy Restaurant im Kiez war. Nicht, dass noch jemand denkt, man gehöre doch aufs Land.


Berlin noch besser verstehen

Es gibt eine Menge Dinge, die Berliner:innen an Zugezogenen nerven – gebt euch Mühe! Allerdings brauchen auch Zugezogene erst einmal Zeit, um sich an ein paar Dinge zu gewöhnen. Es gibt aber auch die Dinge, die Neuankömmlinge sofort lieben. Mehr und immer Neues über das Berliner Stadtleben gibt es hier.

Berlin am besten erleben
Dein wöchentlicher Newsletter für Kultur, Genuss und Stadtleben
Newsletter preview on iPad