„Mutiny/Meuterei“ – „Stand By for Failure/zum Scheitern verurteilt“ – „The Sound of Free Speech“: Einige der Filmtitel beim diesjährigen „Soundwatch Music Film Festival“ klingeln in den Ohren wie das Unheil der politischen Nachrichten, die gerade tagtäglich auf einen niederprasseln. Ob beabsichtigt oder nicht, ruft die diesjährige Ausgabe des Festivals in Erinnerung, dass Pop-Kultur gleichermaßen das Versprechen von Eskapismus und Rebellion bedeutet. Text: Andreas Döhler
„Soundwatch Music Film Festival 2023“: Legenden auf der Leinwand
Quasi die Flucht nach vorne traten 1980 fünf australische Boys Next Door an, um sich aus ihren einengenden Verhältnissen down under zu befreien. Kurzentschlossen änderten sie ihren Boys-Bandnamen in The Birthday Party und tauschten den Lebensmittelpunkt Melbourne mit London. Prompt war die Legende von der gefährlichsten Band der Welt geboren. Ob sie nun eher eine Gefahr für sich selbst oder bei ihren Live-Auftritten auch eine für das Publikum waren, davon kann man sich in dem Film „Mutiny in Heaven“ von Ian White selbst ein Bild machen. Fakt ist, dass das Inferno aus Punk, Blues und Krach, das fortan vorneweg Nick Cave als Sänger und die Gitarristen Rowland S. Howard und Mick Harvey produzierten, ein wüstes und wütendes Aufbegehren gegen jede Konvention darstellte.
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Reizvoll ist der Blick auf die West-Berliner Zeit (ab 1982) der Birthday Party, die wegen zunehmend persönlicher und künstlerischer Differenzen zwischen Cave und Howard für die Band nicht gerade im Guten endete. So ist der Film, auch in Erinnerung an Rowland S. Howard, der 2009 und Bassist Tracy Pew, der bereits 1986 verstarb, mit einem eigens von Mick Harvey komponierten Soundtrack und vielen bisher unbekannten, intimen Einblicken in ihre Bandgeschichte eine Aussöhnung.
Intime Einblicke in die Bandgeschichte und eine Aussöhnung
Im Vergleich zu The Birthday Party war der Sound mit dem Crass 1979 in der britischen Szene reüssierten eher ein gepflegter Punk-Lärm, aber scharf geschliffen – wie ein Rasiermesser, mit dem sie unermüdlich in ihren Texten die gesellschaftlichen Verwerfungen des politisch düsteren Englands unter der Regentschaft von Maggie Thatcher sezierten. Mehr Gesamtkunst-Kollektiv als Band, beseelt von einer zutiefst humanistischen, linksradikalen und anarchistischen Überzeugung, prangerten sie jede Art von Zerstörung an: Die Zerstörung von Menschen, Tieren und der Welt im Globalen durch die alles zermalmende Macht des Kapitalismus und seiner auf Gier, Profit, Ausbeutung, Ungleichheit und Ungerechtigkeit basierenden ökonomisch-politischen Agenda. Aufklärerisch konzipierten sie dazu ihr ganz eigenes Artwork, was noch einmal in dem neuen Film „Crass: The Sound of Free Speech“ von Brandon Spivey mehr als deutlich wird, und die Erinnerung an den Glauben einer positiven Utopie weckt, von der die Welt so weit entfernt scheint wie schon lange nicht mehr.
Nicht weniger utopisch, aber vertrackter ist der konzeptionelle Ansatz, den die kalifornische Band Negativland konsequent seit ihrer Gründung 1979 verfolgt. Es ist der Traum von einer Welt ohne künstlerische Grenzen, ohne Copyright, ohne geistiges Eigentum. Sie bedienten sich reichlich und ungeniert aus dem großen Bastelkasten der US-Film-und Fernsehindustrie, aus einem nie versiegenden Füllhorn an Bildern, O-Tönen und Sounds, üppig garniert mit popkulturellen Referenzen und trugen dadurch wesentlich dazu bei, Plunderphonics (aus Samplern gebastelte Musik) als Musikgenre zu etablieren. Schräg, albern, banal, aber auch ernst hinterfragen sie immer noch die Natur von Technologie, Kontrolle, Medien, Propaganda, Macht und Wahrnehmung. Wie relevant und entlarvend ihre Arbeiten gerade in Zeiten von entfesselten Bilderkriegen und Fake News im Internet sind, zeigt eindrücklich die brandneue Negativland-Dokumentation „Stand By For Failure“ von Ryan Worsley.
Bodenständiger sind da schon die musikalischen Biographien über Joan Baez und Max Roach. Während das Leben und Wirken der inzwischen 82-jährigen Ikone Joan Baez völlig zurecht ausführlich in dem 2023-Dokumentarfilm mit dem vielsagenden Titel „Joan Baez – I Am A Noise“ gewürdigt wird, widmet sich „Max Roach: The Drum Also Waltzes“ nicht nur den wichtigen Beiträgen und Einflüssen von Max Roach als Schlagzeuger für die Entwicklung des Jazz, sondern legt auch einen starken Fokus auf seine lebenslang aktive Rolle in der schwarzen US-Bürgerrechtsbewegung.
„Soundwatch Music Film Festival 2023“: Musikerinnen Mona Mur und Barbara Morgenstern
Soundwatch beweist auch in diesem Jahr wieder seine Leidenschaft zur Vielfalt im Musikfilm und wagt auch ungewohnte Experimente wie mit dem Programm „Works in Progress: Mona Mur vs. Barbara Morgenstern“. Hier trauen sich die beiden Musikerinnen Mona Mur und Barbara Morgenstern noch unfertige Filme über ihre Musik, an der Seite ihrer Filmemacher:innen Sabine Herpich und Dietmar Post, dem Publikum zu präsentieren und darüber zu diskutieren.
- Soundwatch Music Film Festival 9.-22. November in den Kinos Lichtblick, fsk und Krokodil. Das gesamte Programm und weitere Infos hier
Was beim Soundwatch Music Film Festival 2024 ansteht, lest ihr in diesem Artikel
Noch mehr Berlin erleben
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