Das Deutschlandmuseum rafft auf 1.400 Quadratmetern deutsche Geschichte als immersives, interaktives Erlebnis in zwölf Kapiteln zusammen: von der Varusschlacht über die Reformation bis zum wiedervereinigten Land. Was euch beim Crashkurs Germany erwartet, lest ihr hier.
Deutschlandmuseum: Was soll das überhaupt sein?
Ein Museum wie kein anderes. Behaupten jedenfalls die Macher. „Nirgendwo in der Welt gibt es ein Museum über die Geschichte einer Nation, was (sic!) Wissen niedrigschwellig für den Erstbesucher erzählt“, lautet die Eigenwerbungsprosa. Hier kriegen also Gäste ohne großes Vorwissen binnen einer Stunde einen schnellen Überblick über rund 2.000 Jahre Geschichte – als immersives Erlebnis, als sinnliche Erfahrung, inklusive Gerüche, 3-D-Gemälde, interaktiven Installationen und mit überschaubarer Textmenge. Es ist, eher untypisch für historische Museen, eine Ausstellung zum Anfassen. Familien-Entertainment.
Auf zwei Etagen am Leipziger Platz gilt, was deutsche Musikinterpreten seit vielen Jahren nicht mehr beim Eurovision Song Contest vernommen haben: Germany, 12 points. Denn die deutsche Geschichte wird am Leipziger Platz in zwölf Kapiteln erzählt. Von der Varusschlacht im Jahre 9 und dem Frühmittelalter um 955 über die Aufklärung um 1740 und den Deutschen Bund in 1848 bis zur Weimarer Republik, dem Dritten Reich, der Jahre der Teilung und dem wiedervereinigten Deutschland mit dem Fußball-Sommermärchen von 2006. Zwei Etagen, 1.400 Quadratmeter Fläche, eine Stunde Rundgang.
Am Samstag, 17. Juni, eröffnet das Deutschlandmuseum.
Deutschlandmuseum: Wer steckt dahinter?
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Zuallererst Robert Rückel, der Gründungsdirektor des DDR-Museums in Mitte, der am Leipziger Platz auch das Deutsche Spionagemuseum betreibt. Als 2021 zwei Häuser nebenan das Dali-Museum schließen musste (ein Ort, bei dem man sich seinerzeit durchaus fragen konnte, was genau er überhaupt in Berlin zu suchen hatte), dachte Rückel: „Das ist eine Chance once in a lifetime.“ Vier Millionen Euro hat der Aufbau des Museums nach seinen Angaben gekostet.
Bei der Erlebnisgestaltung, erzählt Rückel bei einem Pressetermin, habe er sich vom neu gestalteten immersiven 1920er-Jahre-Bereich bei Madame Tussauds in Berlin inspirieren lassen, für den das Gestaltungsbüro Creative Studio Berlin verantwortlich zeichnete. Dessen Direktor Chris Lange rief er, Rückel, dann einfach an. Creative Studio Berlin hätte bislang vornehmlich fiktionale Plots in Freizeitparks weltweit umgesetzt, erzählt Chris Lange. Hier aber ging es darum, 2.000 Jahre Geschichte auf rund 1.000 Quadratmetern darzustellen, „was sich erstmal etwas verrückt anhört“. Stimmt.
Ein weiterere Akteur im Deutschlandmuseum ist die Produktionsfirma Playing History, die didaktische Spiele entwickelt, vor rund zehn Jahren als eines der ersten Projekte ein Spiel namens Bürokratopoly — Ein Lehrspiel aus der DDR“ entwickelte, das inzwischen 10.000-mal an Schulen vertrieben worden sein soll und deren Chef Martin Thiele-Schwez sagt: „Alles, was Kinder lernen, lernen sie spielerisch. Es gibt keinen Grund, warum wir als Jugendliche und Erwachsene damit aufhören sollten.“
So lasset das Spielen beginnen.
Deutschlandmuseum: Wie es fühlt sich an, durch 2.000 Jahre zu gehen?
Zuallererst: Ballermodus für alle Sinne. Es raunt, es wummst, es kracht, es donnert. Es riecht nach Wald und Schießpulver. Hier ertönt ein Kirchenchoral, da weht die Nationalhymne herüber, dort donnern Weltkriegs-Geschütze. 50 Projektoren, 100 Lautsprecher. Hört man. Über den Räumen liegt eine dicht dröhnende, sich immer wieder neu zusammensetzende Klangwolke, die die Besucher beim Gang durch 2.000 umhüllt, oder besser: umbrüllt. Kein Moment der Ruhe, nirgends. Deutsche Geschichte ereignet sich nicht nicht leise.
Und die Geschichtstour beginnt mitten im Wald. Dicke Baumstämme, weicher Boden, dichtes Blätterwerk über den Köpfen, Vogelgezwitscher. Auf seitlichen Videowänden huschen Germanen wie Schatten durchs Unterholz. Man fühlt sich wie ein römischer Legionär, der gleich einen richtigen Scheißtag haben wird. Arminius und seinen wilden Kämpfern sei Dank. Dieser erste Raum ist nämlich der Varusschlacht gewidmet, die benannt ist nach dem römischen Feldherren und nicht mehr, wie früher, nach dem Teutoburger Wald, in dem sie ja auch gar nicht stattfand, wie man mittlerweile weiß.
Ein Quiz zum Selbsttest leuchtet auf einem Bildschirm an der Seite, der erste von mehreren, die folgen werden. Frage 4: „Wie wurde Arminius lange Zeit auch genannt?“ Mögliche Antworten: „Dieter“, „Herrmann“, „Klaus“, „Helmut“.
Wer hier „Helmut“ klickt, ist tatsächlich ganz ohne Vorwissen ins Deutschlandmuseum gekommen. Oder überengagiertes Mitglied der CDU.
Und weiter geht‘s ins Frühmittelalter mit den groß aufgestellen Reichsinsignien – Reichskrone und Reichsapfel in XXXL –, dann durchs Hochmittelalter mit der Anmutung eines Burgzimmers. Vor dem Fenster droht bei Ritterfestspielen auf der Videoleinwand einiger Blechschaden. Am „Minnefy“, einem kleinen Verschlag mit einer interaktiven Gedichtmaschine, kann man sich einen mittelalterlichen Minnesang komponieren lassen. Erst Textbausteine auswählen, dann das Gerät machen lassen. Und schon erschallt das Lied.
Was ein gutes Beispiel dafür ist, wie in diesem Museum Mitmachen niedrigschwillig dargeboten wird. Im Reformationsraum kann man in einer Druckerstube seine Inititialen zeitgenössisch ausdrucken lassen, beim Kapitel zum Deutschen Bund ab 1848 verschiedene geografische Konstellationen durch sich per Kurbel hebende oder senkende Regionen – Königreich Preußen, Thüringische Staaten, Kaisertum Österreich – auf einer überdimensionalen Landkarte visualisieren.
Das Kaiserreich mündet beklemmend in Schützengräben des Ersten Weltkrieges, es geht vorbei an einer Wand mit Feldpostkarten und einer Gasmaske in einer Vitrine, wo eine große Videoinstallation einen weiten Blick auf das Schlachtfeld öffnet. Kahlgeschossene Landschaft, Einschläge, Feuer, Flugzeuge. Es riecht nach Schießpulver. Passend dazu im Raum der Weimarer Republik: ein nachgebautes Ladengeschäft für Prothesen und Bandagen. Aber auch eine Barszene. Zwei Pärchen, die tanzen. Einer der Tänzer sieht aus wie Bertolt Brecht, dessen Leben wir hier genauer betrachten.
Es ist Geschichte im Schnelldurchlauf, 2.000 Jahre in Schlaglichtern, ein Gefühlskaracho zum Mitmachen, eine komprimierte History-Lehrstunde, Germany for Kids and Tourists. Deutschland für Dummys.
Es kommt das Dritte Reich – Hitler, Goebbels, Sportpalast, Holocaust, Bomber über der zerstörten Stadt, Nürnberger Prozesse. Dann die deutsche Teilung – eine Altbautreppe unter einem Fenster, das gerade zugemauert wird. Mauerbau, Grenzerfahrung. Es geht um den Nachkriegskonsum in Ost und West, wo bespielsweise für den Osten ein Mitropa-Kiosk mit Zeitungen wie „Neues Deutschland“ und „Junge Welt“ zu sehen ist, der auch mit interessanten Biersorten wie „Erfurter Angerbräu“ und „Dessauer Castor Premium-Pils“ aufwartet. Na dann Prost.
Und schließlich, zum Finale der Tour, jetzt sollte eine Stunde um sein: ein S-Bahn-Wagen mit, immerhin, ledergepolsterten Bänken. „Feuerlöscher unter dem Sitz“, verheißt ein Schild. An den Fenstern zieht das sich wiedervereinigende Deutschland in Videoschnipseln vorbei. Alexanderplatz-Demo am 4. November 1989, Günter Schabowski mit dem Zettel, „sofort, unverzüglich“, Christos verhüllter Reichstag, Loveparade, Joschka Fischer vor der UN, „I am not convinced“. Und dann über die Lautsprecher, ja, auch das noch: die Sportfreunde Stiller: „Eins und zwei und drei und ′54, ’74, ′90, 2010/Ja, so stimmen wir alle ein.“ Sommermärchen, früher. Und ganz am Ende: Angela Merkel: „Wir haben so viel geschafft. Wir schaffen das.“
Ob aber zeithistorisch bewanderte Menschen allerdings so richtig viel Freude am Rundgang haben? Interessante Vorstellung. Frage also an Robert Rückel, den Direktor: Ob sich, nur so als Beispiel, ein Heinrich August Winkler, mithin einer der prominentesten deutschen Historiker, das Deutschlandmuseum tatsächlich ansehen wollen würde, um mal nachzugucken, wie ihr lebenslanges Forschungsgebiet dort auf eine Stunde Entertainment zusammengedampft wurde?
Rückel antwortet – natürlich völlig zutreffend –, dass man das natürlich den Historiker selbst fragen müssten. Aber er setzt dann auch überaus selbstbewusst hinzu: „Ich glaube, er sollte es.“ Das Museum erreiche „natürlich deutlich mehr Menschen als er“. Und wenn die sich hinterher ein Geschichtsbuch kauften, um das eben Erlebte zu vertiefen, „dann haben wir die neugierig gemacht auf Geschichte“.
Das Spionagemuseum verzeichne 420.000 Besucher:innen jährlich, sagt Rückel. Mittelfristig, hofft er, werde das Deutschlandmuseum auch diese Dimensionen erreichen.
Mit oder ohne Gesichtswissenschaftler:innen.
- Deutschlandmuseum Leipziger Platz 7, Mitte, tgl. 10 – 20 Uhr, ausschließlich Zeitfenstertickets, variabel je nach Nachfrage 11 –21 €, erm. 8–14,50 €, deutschlandmuseum.de
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