Geschichte

17. Juni 1953: Was bleibt vom Aufstand?

Der 17. Juni 1953 war der Tag, an dem DDR-Werktätige gegen die SED offen rebellierten. Die sowjetische Besatzungsmacht rettete mit ihren Panzern Walter Ulbricht die Macht. Aber zum 70. Jahrestag scheint der DDR-Volksaufstand in der öffentlichen Wahrnehmung kaum noch präsent zu sein. Was bleibt vom Aufstand?

17. Juni 1953 in Ost-Berlin: Sowjetische Panzer retten Ulbricht die Macht. Foto: Imago/Photo12/Archives Snark DFS09A06212

17. Juni 1953: Der Kontrollverlust der SED, der bis 1989 nachwirkte

Und dann marschieren sie spontan los, Vorzeige-Werktätige der jungen DDR, Bauarbeiter der Stalinallee. Dort, wo die SED den ersten sozialistischen Prachtboulevard des Ostens plant. Die Bauarbeiter sind stinksauer.

Es ist der 16. Juni 1953, ein Tag vor jenem Datum, das als DDR-Volksaufstand in die Geschichtsbücher eingehen wird – und den West-Deutschen den Feiertag mit dem besten Wetter beschert – bis der „Tag der deutschen Einheit“  1990 auf den 3. Oktober verschoben wird.

Erst sind es eine Handvoll Malocher von Block 40 der Stalinallee, der heutigen Karl-Marx-Allee. An jeder Baustelle wird der Zug größer, schwillt auf 2.000, 3.000 Leute an. Ihr Ziel ist das Haus der Ministerien in der Leipziger Straße. Dort ist nicht mehr nur von der geforderten Rücknahme der zehnprozentigen Normerhöhung die Rede, die erst kurz zuvor, im Mai, vom Zentralkomitee (ZK) der SED beschlossen worden war. Sondern vom Rücktritt der DDR-Regierung. Das ist die Forderung der Tausenden.

Sonst: Generalstreik, am nächsten Morgen. Am 17. Juni 1953.

Zum 70. Jahrestag des Aufstands fühlt es sich so an, als sei dieser 17. Juni 1953 noch viel länger her. Eine halbe Ewigkeit. War da was?

Warum spielt der 17. Juni 1953 in der Forschung kaum noch eine Rolle?

Als der tipBerlin bei der Humboldt-Universität anfragt, wer sich aktuell in der Wissenschaft mit dem Tag beschäftigt, verweist man auf das Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Am Handy meldet sich Hanno Hochmuth, wissenschaftlicher Referent, und sagt: „Der 17. Juni 1953 spielt sowohl in der Öffentlichkeit, abgesehen von erinnerungskulturellen Reflexen, die sich am Kalender orientieren, als auch in der Forschung kaum noch eine Rolle.“ Zu Recht? „Nein“, findet Hochmuth. „Man kann die DDR nicht verstehen ohne den 17. Juni 1953. Die Hochrüstung der Stasi, der Bau der Berliner Mauer, die Angst vor der eigenen Bevölkerung, die die SED-Politik bis 1989 geleitet hat, das ist alles ein Reflex auf den Kontrollverlust.“

Ein weiterer Anruf, diesmal beim Berliner Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, der erst kürzlich im tip überaus pointiert und nicht sehr freundlich über Rammstein geschrieben hat, noch bevor die Vorwürfe gegen Till Lindemann zu kursieren begannen. Als einer der wenigen Forschenden hat Kowalczuk den 17. Juni 1953 nie aus den Augen verloren, er veröffentlichte unter anderem vor zehn Jahren ein kompaktes Buch mit dem Datumstitel. Am 13. Juli erscheint sein Buch „Walter Ulbricht: Der deutsche Kommunist“, der erste von zwei Teilen dieser Biografie. Fast 1.000 Seiten.

Weil das Gespräch ein Videocall ist, kann man Kowalczuk gut dabei zuschauen, wie sehr die Frage nach der Wahrnehmung des 17. Juni 1953 seine Laune tangiert: „Für die Jüngeren hat der Tag keine Bedeutung“, grollt er. „Und warum nicht? Weil die ganze Geschichte von Opposition und Widerstand gegen den Kommunismus nicht ins deutsche, nicht ins westeuropäische Geschichtsbewusstsein vorgedrungen ist.“

Auch die beiden jüngsten Bestseller zur DDR tragen dazu wenig bei, „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung” des Leipziger Literaturwissenschaftlers Dirk Oschmann und eine vorgeblich „neue Geschichte der DDR” der in London forschenden Historikerin Katja Hoyer, die 1985 in Guben geboren wurde. Ihr Abriss „Diesseits der Mauer“ taucht die Diktatur in mildes Sepia-Licht.

Die Vorgeschichte des 17. Juni: Stalin stirbt, Molotow motzt, Ulbricht ist verdattert

Seit 1950 ist Walter Ulbricht der Vorsitzende des Zentralkomitees der SED. Formal ist Präsident Wilhelm Pieck das Staatsoberhaupt, aber die Macht liegt vor allem in den Händen des Mannes mit dem Spitzbart. Im Juli 1952 ruft er auf der zweiten SED-Parteikonferenz den „planmäßigen Aufbau des Sozialismus“ aus. Junker werden enteignet, Handwerksbetriebe mit Steuern drangsaliert, Gewerbetreibende bei geringsten Vergehen ins Gefängnis geworfen. 120.000 DDR-Bürger fliehen über die Jahre durch die offene Grenze nach West-Berlin.

Am 5. März 1953 stirbt der sowjetische Diktator Josef Stalin. Die neue Kreml-Führung aus Georgi Malenkow, Wjatscheslaw Molotow und Lawrenti Berjia bestellt Ulbricht, Ministerpräsident Otto Grotewohl und Fred Oelßner, den Propaganda-Sekretär des SED-Zentralkomitees (der fließend russisch spricht und übersetzt), für Anfang Juni nach Moskau ein. Und das sowjetische Führungstrio verdonnert die entgeisterten DDR-Genossen, wie das auch in anderen Ostblockstaaten passiert, zu einem „Neuen Kurs“.  Und zur Selbstkritik. „Die waren völlig geplättet“, sagt Kowalczuk.

Die SED-Führung muss den Großteil der ein knappes Jahr zuvor beschlossenen radikalen Maßnahmen zum „planmäßigen Aufbau des Sozialismus“ wieder zurücknehmen. Am 11. Juni wird der von den Sowjets diktierte Beschluss des SED-Politbüros in den Zeitungen veröffentlicht. Dadurch habe „ein Teil der Bevölkerung erkannt: Die Herrschenden ändern ihren Kurs. Eine Bankrotterklärung!“, kommentiert Kowalczuk. Und er betont: „Die Normen spielen da noch gar keine Rolle. Am 12. Juni gibt es erste Demos. Wo finden die statt? Vor Haftanstalten. Weil es heißt, die politischen Urteile sollten überprüft werden.“

Dicke Luft im Biergarten Rübezahl

Tags darauf, es ist ein Sonnabend, spielen die Arbeitsnormen dann aber doch eine Rolle. Der VEB Industriebau schippert zum Betriebsausflug mit den Dampfern „Seid bereit!“ und „Triumph“ über die Spree. Im Biergarten Rübezahl am Müggelsee (übrigens immer noch eine gute gastronomische Adresse am Wasser) scheinen, eher ungewöhnlich bei der Versorgungsmisere in der DDR, die Biervorräte einigermaßen auskömmlich zu sein. Das Pils lockert die Zungen, steigert den Mut, befeuert den Zorn.

Ein Brigadier steigt, wie der Historiker Stefan Wolle, wissenschaftliche Leiter des DDR Museums, in seinem Buch „Ost-Berlin: Biografie einer Hauptstadt“ beschreibt, am frühen Abend auf einen Tisch und skandiert: „Kollegen, wir gehen am Montag um 7 Uhr nicht aus den Baubuden. Wir streiken!“ Dann wird er von weniger verwegenen Kollegen rasch vom Tisch gezogen, wie Wolle aus Stasi-Akten zitiert.

Die Baustelle der Männer, auf der sie arbeiten, ist das Krankenhaus Friedrichshain. Am besagten Montag, es ist der 15. Juni springt der Funke von dort auf Block 40 der Stalinallee über, die Prachtstraße ist nur ein paar Gehminuten entfernt. Dort marschieren die Arbeiter also tags darauf los, zum Haus der Ministerien. Industrieminister Fritz Selbmann will sie beruhigen, steigt auf einen Tisch, wird niedergeschrien. Ein Bauarbeiter ruft zum Generalstreik für den nächsten Tag auf. Am Rosenthaler Platz kapern die Rebellen kurzerhand einen Lautsprecherwagen der FDJ. Und donnern den Streikaufruf in die Stadt hinaus.

Ab dem frühen Abend berichtet der RIAS, die Reporter können sich über die offenen Grenzen frei im Osten bewegen, über die Unruhen. Aber eher vorsichtig. Anders als die SED-Propaganda später behauptet, werden die Radiomacher am Kufsteiner Platz von den Amerikanern sogar zur Zurückhaltung angehalten. Eine Gruppe von Bauarbeitern der Stalinallee, die in Schöneberg vorspricht, darf ihre Streikparolen nicht über den Äther schicken. Bescheid wissen viele DDR-Bürger aber trotzdem.

Am 17. Juni 1953 lodert der Aufstand an 200 Orten in der ganzen DDR. Die SED-Führung wird davon völlig überrascht. Es scheint, als seien Ulbrichts Tage als De-facto-Staatschef gezählt.

In Ost-Berlin versammeln sich in den Morgenstunden Streikende auf dem Strausberger Platz. In Oberschöneweide streiken die Betriebe. Aus Henningsdorf marschieren Tausende Arbeiter des Stahlwerks durch West-Berlin in Richtung DDR-Hauptstadt. Drei West-Berliner Jugendliche erklimmen das Brandenburger Tor, holen die darauf wehende Rote Fahne ein, werfen sie runter. Sie wird zerrissen, verbrannt. Die Menge jubelt. Als die Jugendlichen zwei Stunde später mit der West-Berliner Bären-Flagge zurückkehren, haben russische Schützen Stellung bezogen. Es fallen Schüsse.

17. Juni 1953: Volkspolizisten bilden eine Absperrkette an der Leipziger Straße. Foto: Imago/United Archives

Denn die bereits alarmierte sowjetische Besatzungsmacht, kurzer Anfahrtsweg, hat genug gesehen. Und greift ein. Knapp 600 sowjetische Panzer beziehen gegen Mittag Stellung im Zentrum Ost-Berlins, diese massigen graugrünen Kampfmaschinen, die seit acht Jahren nicht mehr durch das Zentrum der Stadt gewalzt waren. Die massive Präsenz zeigt Wirkung. Die Streikenden sind unorganisiert, es gibt keine Führungsstruktur.

Der Tag fordert rund 55 Tote in der DDR. Es gibt einige standrechtliche Erschießungen. Und 10.000 Verhaftungen.

17. Juni 1953: Wollte die Sowjetunion die DDR aufgeben?

Es heißt mitunter, das Schicksal der DDR habe schon damals, am 17. Juni 1953, am seidenen Faden gehangen. War dem denn tatsächlich so?

„Ach was“, winkt Kowalczuk, der Historiker, ab. „Die Russen hätten dafür abziehen müssen. Warum hätten sie das tun sollen? Jalta, die ganze Potsdamer Nachkriegsordnung, das alles hätte überwunden werden müssen. Das ist Quatsch.“

Auf jeden Fall haben die Sowjets Walter Ulbricht die Macht gerettet. Vielleicht, weil ihnen kein potenzieller Nachfolger vertrauenswürdig genug schien. Ulbricht kannten sie nur zu gut.

Rund um den 70. Jahrestag gab und gibt es in Berlin einige wenige Gedenkveranstaltungen. Am 16. Juni tritt bespielsweise der Liedermacher Wolf Biermann, der auch Ehrenbürger von Berlin ist, in der Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung auf, vorher sprechen unter anderem Stiftungspräsident Norbert Lammert und CDU-Chef Friedrich Merz. Auf der Straße Unter den Linden erinnern fünf großformatige Bildertafeln bis 19. Juni an den Aufstand, kuratiert von der Bundesstiftung Aufarbeitung, des Berliner Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und Kulturprojekte Berlin.

Bereits in der Woche vor dem Jahrestag hatte Bündnis 90/Die Grünen zu einer ganztägigen Konferenz über den 17. Juni 1953 ins Paul-Löbe-Haus eingeladen. Als Keynote-Sprecher geladen: Ilko-Sascha Kowalczuk, der Historiker.

„Warum hätten die Russen das tun sollen?“ Historiker Kowalczuk bei der Gedenkveranstaltung von Bündnis 90/Die Grünen zum 70. Jahrestag. Foto: Imago / Metodi Popow

Wie stellt er sich das Gedenken vor? „Der 17. Juni“, sagt Kowalczuk, „wäre in der besten aller Welten der Tag, an dem man an Opposition und Widerstand, an Verfolgung in der kommunistischen Diktatur erinnert, und diesen Tag mit Gesichtern ausfüllt, mit Namen, mit Biografien – alles, was Nachgeborene brauchen, um Geschichte begreifen zu können.“

Gute Idee vielleicht für den 75. Jahrestag.


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Wer auf der anderen Seite der Mauer gelebt hat, kennt diese 12 Dinge in West-Berlin bestimmt. Über seine Anfänge als Horrorfilmmacher in West-Berlin hat Kultregisseur Jörg Buttgereit das Tagebuch „Nicht jugendfrei!“ veröffentlicht, zu dem wir euch eine Leseprobe präsentieren. Eine ganz eigene Stimmung machte sich in den 80er-Jahren in der Jugend in Ost-Berlin breit. Als die Mauer fiel, begann dann das sogenannte „Jahrzehnt der Freiheit“: ein Vorabdruck aus dem neuen Buch von Jens Balzer, „No Limit“. Unsere Übersichtsseite zu tip-Berlin-Stadtleben-Themen findet ihr hier.

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