Stadtentwicklung

Lieferdienste in Berlin: Ist die Stadt ihnen ausgeliefert?

Lieferdienste sind die Profiteure der Pandemie. Machen Anbieter wie Gorillas, Lieferando, Getir und Flink die Stadt komfortabel – oder sind sie eine Gefahr für urbane Kultur und Umwelt? Wir haben die stadtplanerischen Herausforderungen sowie ökologische Probleme des Geschäfts untersucht – und die prekären Arbeitsverhältnisse dahinter, die eine Art „Lieferbotenklasse“ hervorbringen. Ein Rundgang durch die schöne neue Lieferwelt.

Die Streiks der Gorillas-Fahrer:innen brachten Lieferdienste in die Kritik. Foto: Imago/Seeliger
Die Streiks der Gorillas-Fahrer:innen brachten Lieferdienste in die Kritik. Foto: Imago/Seeliger

Lieferdienste als signalfarbene Vorhut einer neuen Zeit

Als sich die Türen der Restaurants schlossen, sahen Lieferfahrer:innen auf den leeren Straßen Berlins plötzlich aus wie Zukunftsboten. Für manche wie Heilsbringer, die uns auf Rädern mit dem Nötigsten oder Unnötigsten versorgten, als in der notorischen Draußenstadt Berlin plötzlich alle zuhause bleiben sollten – für andere wie die signalfarbene Vorhut einer ganz neuen Zeit.

Essenslieferdienste zählen zu den Profiteuren der Pandemie. Für Lieferando verdoppelte sich der Umsatz im vergangenen Jahr von 80 Millionen Euro auf 161 Millionen Euro. Das Unternehmen Delivery Hero, das 2019 seine Dienste Foodora, Lieferheld und pizza.de verkauft hatte, kehrte im Juni 2021 mit der Marke Foodpanda nach Deutschland zurück. Und zu den etablierten Diensten, die Essen aus Restaurants in Haushalte transportieren – unter ihnen seit neuestem auch die Edel-Liefer-App Wolt – kommen seit einigen Monaten Lebensmitteldienste wie das deutsche Startup Gorillas und seine Konkurrenten Flink sowie das türkische Pendant Getir.

Ein Forschungsteam der Technischen Universität Berlin und des Wuppertal-Instituts prophezeite schon im Oktober 2020, dass die Änderungen im Konsumverhalten – weg vom Ladeneinkauf oder Restaurantbesuch, hin zur bequemen App-Bestellung – auch über die Pandemie hinaus erhalten bleiben werden. Wer eine Ahnung davon bekommen will, wie die Lieferdienste die Stadt verändern werden, sollte einen Spaziergang durch die Stadt unternehmen. Und sich bei Expert:innen unterhaken.

Ökologische Katastrophe? Ganz so einfach ist es nicht

Wenn wir unsere Tour etwa auf dem Tempelhofer Feld beginnen, sehen wir dort vielleicht erst einmal: überquellende Papierkörbe, darin viele Tüten mit den Schriftzügen der einschlägigen Lieferservices. In der Stadt, in der Shopping im Unverpackt-Laden zum Distinktionsmarker wurde, kann man mittlerweile beobachten, wie sich bierselige Gruppen Chips oder Burger zum Beisammensitzen am Kanal liefern lassen. Das mag unsinnig sein, wenn der nächste Späti um die Ecke liegt; eine ökologische Katastrophe für die ganze Stadt müssen Lieferdienste aber nicht grundsätzlich sein.

„Hinsichtlich Transport und Logistik muss man in den meisten Fällen kein schlechtes Gewissen haben, wenn man online bestellt, weil der Vertrieb in der Regel relativ effizient ist“, sagt Nele Kampffmeyer vom Berliner Öko-Institut. Weil die Ladengeschäfte mit offenen Kühltruhen und Beleuchtung wegfallen, die sonst energieaufwendig betrieben werden müssen, ist der ökologische Fußabdruck von online bestellten Produkten tendenziell kleiner, „besonders, wenn die letzte Meile zum Kunden nicht mit dem Auto, sondern mit einem Lastenrad zurückgelegt wird“.

Allerdings hat Nachhaltigkeit noch mehr Facetten – zum Beispiel die Frage der Wegwerfkultur. Noch gibt es keine gesicherten Infos dazu, wie viel bei Flink und anderen Supermarkt-Diensten im Vergleich zu den üblichen Märkten im Müll landet.

Und dann wäre da noch die Produktion. „Die eigentliche Frage ist, wie die gelieferten Waren hergestellt werden“, sagt Nele Kampffmeyer. „Was bei Diensten wie Gorillas erhältlich ist, sind ja meist keine nachhaltigen Produkte. Und bei den Essenslieferdiensten sind natürlich die Mengen an Verpackungsmüll ein Problem.“

Lieferdienste in Berlin bringen neues Prekariat hervor

Ein anderes Problem, das die neue Bequemlichkeitskultur mit sich bringt, ist dank der wilden Streiks der Gorillas-Fahrer:innen seit Monaten dauerpräsent in der Stadt: Längst hat sich eine Art „Lieferbotenklasse“ herausgebildet. Oder auch: das „Entreprecariat“, wie es der Künstler und Theoretiker Silvio Lorusso in seinem 2019 erschienenen gleichnamigen Sachbuch formulierte.

In diesem Begriff – einem Kofferwort aus „Entrepreneur“ und „Prekariat“ – steckt die Logik der Lieferwelt. Denn Plattformen wie Lieferando sind Teil der „Gig Economy“, einem recht neuen Teil des Arbeitsmarktes. So wie Musiker:innen ihr Leben durch Auftritte (also Gigs) bestreiten, hecheln auch Lieferbot:innen oder Uber-Fahrer:innen von einem Auftrag zum nächsten – und das mancherorts als Soloselbstständige, unversichert und zu Honoraren nahe des Mindestlohns unterwegs im Auftrag großer Online-Plattformen.

Grundsätzlich bedeutet Selbstständigkeit, dass sich Auftragnehmer:innen ihre Jobs aussuchen können. „Das ist nicht gegeben, wenn ich aber für einen Lieferdienst arbeite, dessen Kleidung ich tragen muss und der mir via App sehr genau vorschreibt, wann ich was zu tun habe“, sagt der Soziologe Moritz Altenried. In einigen Ländern, darunter Großbritannien, sind Anbieter wie Uber deshalb schon wegen Scheinselbstständigkeit vor Gericht gekommen.

Lieferdienste in Berlin: „Hire and fire“ ist das Prinzip

Weil ihr Kernmodell in der Kritik steht, muss sich die „Gig Economy“ nun etwas einfallen lassen. „Neben der Soloselbstständigkeit gibt es inzwischen eine Vielzahl von prekären Vertragsformen, die alle darauf ausgerichtet sind, dass Arbeitgeber so wenig Verantwortung wie möglich übernehmen müssen“, sagt Altenried. Bei Gorillas etwa bekommen die Fahrer:innen durchaus Verträge. Allerdings zeigte der Fall des jüngst gefeuerten Gorillas-Riders Santiago, der die Streiks auslöste, dass das Unternehmen offenbar die lange Probezeit von sechs Monaten nutzt, um Arbeitnehmer:innen nach der Methode „Hire and fire“ schnell wieder loszuwerden. Uber Eats wiederum, der Lieferservice der Taxi-App Uber, arbeitet mit Subcontracting-Unternehmen, die Fahrer:innen anstellen.

Von anderen Erwerbstätigkeiten unterscheiden sich Jobs bei Lieferdiensten vor allem durch die Konditionen: Auch eine Kassiererin verdient schlecht, muss aber ihre Kasse nicht selbst mitbringen und in Schuss halten, so wie die Lieferfahrer:innen ihre Räder. „Es ist nicht immer gerechtfertigt, Plattformen als alleiniges Übel darzustellen“, sagt Altenried. „Jobs bei Anbietern wie Lieferando fügen sich ein in eine Landschaft prekärer Arbeit, die allgemein kritisiert werden müsste. Bei den Lieferdiensten wird sie meist von migrantischen Beschäftigten erledigt, die wenige Alternativen haben.“

Plattformkapitalismus verschärft die Ungleichheit

Altenried hat das Phänomen des „Plattformkapitalismus“ gemeinsam mit Julia Dück und Mira Wallis in einem Sammelband untersucht: „Plattformkapitalismus und die Krise der sozialen Reproduktion“. Der Begriff der sozialen Reproduktion umfasst alles, was Menschen brauchen, um fit fürs Leben zu sein, und damit auch für den Arbeitsmarkt. Die Beiträge des Buchs setzen sich damit auseinander, dass Lieferando und co. nicht nur schlecht bezahlte Jobs anbieten – sondern darauf spekulieren, dass sie alltägliche Lebensweisen verändern werden. Und Städte wie Berlin, sagt Altenried, seien ihr Experimentierfeld.

„So, wie es jetzt läuft, haben die Plattformen das Potential, Ungleichheiten in der Stadt zu verschärfen“, sagt er. Gerade würden wir uns noch in der Konkurrenzkampfphase befinden, in der viele Anbieter keinen Gewinn machen müssen, weil sie mit Geld ausgestattet sind; erst im März hatte Gorillas 245 Millionen Euro Risikokapital eingesammelt. „Deswegen haben sie vergleichsweise günstige Angebote. Ihr Ziel ist aber immer die Monopolstellung, und wenn die erreicht ist, werden die Anbieter teurer werden“, sagt Altenried. „Das kann man sich dann entweder leisten – oder man muss weiterhin zum Supermarkt, der dann aber vielleicht deutlich weiter entfernt ist als früher, weil der Markt oder der Imbiss um die Ecke wegen geringer Nachfrage geschlossen hat.“

Berlin ist die Stadt der Geisterküchen

Natürlich verändere es die städtische Architektur, wenn es anstelle von Restaurants vermehrt Geisterküchen gibt, also Restaurants, die keine Gäste wollen, und statt Supermärkten Lieferzentren. Wie diese aussehen, kann man sich auf seinem Streifzug durch die Lieferstadt dort anschauen, wo Gorillas seine Zelte aufgeschlagen hat: zum Beispiel am Kaiserkorso, nahe des ehemaligen Flughafengebäudes in Tempelhof.

Großlager statt Läden und Supermärkte: Sieht so die Stadt der Zukunft aus, wenn sie ganz auf Lieferdienste ausgerichtet ist? Foto: Gorillas
Großlager statt Läden und Supermärkte: Sieht so die Stadt der Zukunft aus, wenn sie ganz auf Lieferdienste ausgerichtet ist? Foto: Gorillas

Während die Logistikzentren von Diensten wie Amazon lange vor den Toren der Städte zu finden waren, drängen die Lagerräume der Lebensmittel-Lieferanten nun mitten hinein in die Kieze – schließlich will jedes Innenstadtviertel in rekordverdächtigen zehn (Gorillas) oder sieben Minuten (Flink) beliefert werden.

„Durch Supermarktlieferdienste verändern sich die Erdgeschossnutzungen, denn es gibt keine Interaktion mehr mit den Menschen, die vorbeilaufen“, sagt die Stadtplanerin Cordelia Polinna. „Man sieht jetzt schon in einigen Stadträumen, wie Logistikflächen Quartiere zu langweiligen Orten für Fußgänger machen.“ Flächen, die für urbanes Leben gedacht waren, seien plötzlich abgeschottet. Statt in Schaufenster gucken Flaneur:innen auf blinde Fassaden. 

Lieferdienste sind auch für die Stadtplanung eine Herausforderung

Die Lieferdienste stellen die Stadtplanung vor eine paradoxe Aufgabe. Denn einerseits birgt der E-Commerce-Boom die Gefahr, dass Kieze veröden – andererseits muss sich die Stadt von ihrer attraktivsten Seite zeigen, um die Leute vom Sofa zu locken. „Früher waren wir gezwungen, die Stadtzentren aufzusuchen, um zur Bank oder ins Kino zu gehen“, sagt Polinna. „Das ist durch die Digitalisierung, beschleunigt durch die Pandemie, in den Bereich des Freiwilligen gerutscht. Ich kann ins Restaurant gehen – oder mir das Essen liefern lassen.“

Der auf Effizienz ausgerichtete Einkauf werde sich ins Internet verlagern, während man ins Stadtzentrum geht, um etwas zu erleben – zum Beispiel, um beim Besuch in einem von Berlins schönsten Buchläden gleich noch einen Kaffee im Geschäft zu trinken. „Das alles ist eine tiefgreifende Veränderung, wie ich sie noch nicht erlebt habe“, sagt Polinna. „Eine Stadtverwaltung kann vor allem dafür sorgen, dass öffentliche Räume als ‘Bühne für den Handel‘ attraktiv und sicher sind. Es liegt jedoch an jedem einzelnen, zu entscheiden, ob er weiterhin in einer Stadt mit spannenden Läden und Lokalen leben will.“

Polinna sagt, der Boom der Lieferdienste konterkariere alle Bemühungen um nachhaltige Stadtplanung. Noch ist Berlin von einem Geisterstadt-Szenario aber weit entfernt: Im Stadtraum präsent sind die Lieferdienste vor allem durch ihre Kuriere. Wer mit dem Fahrrad in der Innenstadt unterwegs ist, kommt an den „Ridern“ kaum mehr vorbei. Wird es nun noch enger auf Berlins Straßen?

Für den Stadtverkehr sind Autos das Problem, nicht Räder

Der Verkehrsexperte Andreas Knie sagt, man solle „die Kirche im Dorf lassen“: Obwohl Lieferdienste in der Pandemie groß und stark geworden seien, würden sie in Hinblick auf Verkehr noch nicht die gesamte Stadt verändern. „Das Grundproblem im Verkehr bleiben die Autos in der Stadt, die überall herumstehen“, sagt er. „Wegen denen haben wir keinen Platz, also müssen Lieferfahrzeuge auch an Orten abgestellt werden, wo sie nicht hingehören.“

Überhaupt sei es aktuell noch schwierig, zuverlässig einzuschätzen, ob die Lieferdienste zu mehr Verkehr führen werden – weil die Stadt noch immer im Corona-Modus läuft. „Selbst Leute, die vor der Pandemie nicht viel bestellt haben, nutzen nun Lieferdienste. Das ergibt per se aber noch nicht mehr Verkehr, weil dieselben Leute sich ja sonst aus dem Haus bewegt hätten.“

Was man allerdings sagen kann: Die virtuelle Mobilität in Städten wird deutlich steigen. Das bedeutet, erklärt Knie, dass man einerseits viele Aktivitäten ins Zuhause verlagert – ob man per Zoom eine Konferenz abhält oder mit den Großeltern telefoniert. Andererseits lässt man sich Essen oder den Wocheneinkauf liefern. „Die verkehrlichen Vorteile der Digitalisierung könnten durch Lieferdienste geschwächt werden“, sagt Knie.

Wie viel auf den Straßen – der Online-Bequemlichkeit sei Dank – also demnächst los sein wird, ist noch unklar. Wohl aber kann man erahnen, wer da auf Rädern unterwegs sein wird, wenn es sich die solventen Lieferdienst-Nutzer:innen auf dem Sofa bequem machen: die neue Lieferbotenklasse.


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