„Es braucht Radikalität, um etwas zu verändern“, sagt Sarah Bergmann von der Initiative Act Aware. Gemeinsam mit einem Team setzt sie sich für mehr Awareness auf Veranstaltungen ein. Wir sprachen mit der Aktivistin über den Rammstein-Skandal, das Patriarchat und die alte Losung „Sex, Drugs and Rock’n’Roll“.
Sarah Bergmann: „Awareness ist ein Bewusstsein für grenzüberschreitende Situationen“
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tipBerlin Frau Bergmann, was genau bedeutet eigentlich Awareness?
Sarah Bergmann Awareness ist ein Bewusstsein für grenzüberschreitende Situationen. Es geht darum, sich darüber im Klaren zu sein, dass diese überall stattfinden können und sie nicht immer sichtbar sind. Awarenessarbeit versucht mit präventiven Maßnahmen Grenzüberschreitungen von Vornherein zu verhindern. Und wenn sie trotzdessen passieren, im Sinne der Betroffenen darauf zu reagieren.
tipBerlin Wie sind Sie dazu gekommen, sich mit dem Thema zu beschäftigen?
Sarah Bergmann Ich arbeite seit 2011 in der Musikbranche, anfangs in einer Bookingagentur, später bei Festivals. Da hatte ich einen Fokus auf Besucher:innen-Projekte und aus der eigenen Betroffenheit, aber auch, weil ich das vor Ort mitbekommen habe, begann ich mich mit Awareness auseinanderzusetzen und fragte mich, wie sich sicherere Räume herstellen und bei Festivals praktisch umsetzen lassen.
tipBerlin Der Anlass für unser Gespräch ist der Skandal um Rammstein-Frontmann Till Lindemann. Was haben Sie gedacht, als Sie erstmals davon hörten?
Sarah Bergmann Es hat mich nicht gewundert. Ich bin in meiner Arbeit ständig damit konfrontiert, dass es Grenzüberschreitungen auf Veranstaltungen gibt und als Frau erlebe ich sie nahezu täglich. Ein anderer Gedanke war, dass ich es unheimlich wichtig finde, jetzt darüber zu sprechen.
tipBerlin Müssen wir mit der alten Losung von „Sex, Drugs and Rock’n’Roll“, die einst für einen Aufbruch stand und zu der auch die Groupies gehörten, endgültig brechen?
Sarah Bergmann Wir schauen heute mit einer anderen Perspektive auf diesen Aufbruch in den Sechzigern und Siebzigern – auch auf die Groupies –, die natürlich auch den Machtmissbrauch miteinbezieht. Die Frage wäre, kann hier Sex auf Augenhöhe und im Konsens stattfinden, wo niemand von jemand anderem profitiert? Ich glaube, so lange der männliche Star sich nicht im Klaren ist, dass er beim Sex mit einem Groupie seine Macht ausnutzt, ist das nicht etwas, was man unterstützen sollte. Das hat auch nichts mit sexueller Eigenermächtigung zu tun, daher glaube ich nicht, dass wir „Sex, Drugs and Rock’n’Roll“ brauchen, wenn es auf Kosten von Frauen geht.
Sarah Bergmann: „Man reagiert lieber auf bestehende Situationen und macht erst etwas, wenn etwas passiert“
tipBerlin Ihre Awareness-Richtlinien für Veranstalter:innen existieren schon länger, dennoch soll es bei Rammstein-Konzerten zu Vorfällen gekommen sein. Welche Versäumnisse gab es dort?
Sarah Bergmann Unsere Arbeit ist damit verbunden, dass man Menschen davon überzeugen muss, dass das Thema wichtig ist. Grundsätzlich ist es so, dass Security und Polizei vor Ort diese Arbeit nicht ersetzen, weil sie Täter:innen-zentriert sind. Wir sind Betroffenen-zentriert und parteiisch mit den Leuten, denen etwas passiert. Das wurde in der Veranstaltungsbranche sehr lange nicht gesehen. Man reagiert lieber auf bestehende Situationen und macht erst etwas, wenn etwas passiert. Das Problem liegt aber in der Art und Weise, wie die Gesellschaft strukturiert ist. Wir leben in einem patriarchalischen System, in dem – vor allem auch in der Musikbranche – mit männlichem Blick Entscheidungen getroffen werden.
tipBerlin Demnach wären die Vorfälle das Ergebnis des patriarchalischen Systems, in dem wir leben?
Sarah Bergmann Veranstaltungen sind ein Spiegel der Gesellschaft, sie sind nicht frei von den Strukturen, die generell vorherrschen. Das zu ändern, ist eine große Agenda und uns ist klar, dass der Wandel ein Prozess ist, der nur Schritt für Schritt vollzogen werden kann. Es geht erst einmal darum, Veranstaltungen sicherer zu machen und zugleich das Bewusstsein herzustellen, dass es generelle Missstände gibt, vor allem in internen Strukturen, und deshalb müssen wir da ansetzen und Präventionsarbeit machen und nicht bloß auf Grenzüberschreitungen reagieren.
tipBerlin Ein Vorwurf in dem Rammstein-Skandal lautet, dass Frauen angeblich Drogen verabreicht wurden und auch der Begriff „Spiking“, das Verabreichen von KO-Tropfen in Drinks oder durch eine Spritze, ist gefallen. Wie gehen Sie mit dem Thema um?
Sarah Bergmann Spiking ist ein Ergebnis von Machtmissbrauch. Für die öffentliche Debatte ist das Thema sehr wichtig – ich selbst finde eine Verurteilung wünschenswert, aber an sich löst sie nicht das grundsätzliche Problem. Für Menschen, die den Betroffenen nicht glauben, sind solche justiziablen Aspekte von Bedeutung, aber für unsere Arbeit ist es nicht wichtig, ob jemand verurteilt wird oder nicht. In der Berichterstattung wird die Wirklichkeit vermehrt durch die Augen des Täters gezeigt, es wird Täter-Opfer-Umkehr betrieben. Ich würde mir wünschen, dass darüber berichtet wird, um was es wirklich geht, nämlich die Betroffenen.
Sarah Bergmann: „Awareness-Teams vor Ort sind nur ein Teil der Lösung, eine kurzfristige Maßnahme“
tipBerlin In der Kritik stehen die „Row Zero“ und Aftershow-Partys, Dinge, die bei großen Konzerten üblich sind. Sollten diese Standards verändert werden und wie realistisch ist das?
Sarah Bergmann Ich höre oft, dass unser Ansatz radikal ist, aber ich denke, es braucht Radikalität, um etwas zu verändern. Dabei ist es an sich nicht radikal, wenn ich als Frau auf eine Veranstaltung gehen will, auf der ich anziehen kann, was ich will, ohne angegrabscht oder angegafft zu werden, und mich genauso wie ein Mann in einem Moshpit bewegen und sicher fühlen kann. Das ist ein Wunsch nach Gleichberechtigung und der Weg dorthin ist konkret: Man kann unter dem Veranstalter:innen-Team Umfragen machen, Workshops anbieten, mit Aufklärung sensibilisieren, Diversität fördern, Verhaltensrichtlinien schaffen. Man hat als Veranstalter:in eine Vorbildfunktion. Wenn es intern nicht gut läuft, kann man vom Publikum schlecht erwarten, dass es sich beim Festival respektvoll verhält. Deshalb sind Awareness-Teams vor Ort nur ein Teil der Lösung, eine kurzfristige Maßnahme.
tipBerlin Welche Konsequenzen wird der Rammstein-Skandal für die Branche haben?
Sarah Bergmann Wir bekommen bei Act Aware jetzt schon vermehrt Anfragen nach Unterstützung und ob wir bei Veranstaltungen Awareness-Teams stellen können, aber auch für Workshops und die langfristige Umsetzung von Awareness-Konzepten. Das Bewusstsein wird insgesamt geschärft und meine Hoffnung ist, dass das nicht nur als Reaktion auf Rammstein passiert, sondern dass wir alle nachhaltig gemeinsam schauen, wie wir Konzerte erleben wollen und wie wir sie gemeinsam gestalten können. Besucher:innen, Künstler:innen, Veranstalter:innen – denn wir sind alle Teil der Lösung, genauso wie wir alle Teil des Problems sind.
Rammstein spielen trotzdem, Demonstration angekündigt
Trotz der Vorwürfe und zwei Petitionen mit insgesamt mehr als 100.000 Unterschriften sollen die drei Rammstein-Konzerte am 15., 16. und 18. Juli im Olympiastadion stattfinden. Das feministische Aktionsbündnis „Kein Rammstein in Berlin!“ hat einen offenen Brief an Innensenatorin Iris Spranger (SPD) und Kultursenator Joe Chialo (CDU) verfasst, in dem es heißt: „Berlin darf nicht zum potenziellen Tatort sexualisierter Gewalt werden.“ Das Land Berlin habe als Eigentümer des Olympiastadions die Verantwortung, die Konzerte abzusagen, um weitere Übergriffe zu verhindern und ein Zeichen zu setzen.
Für den 15. Juli hat das Bündnis ab 14 Uhr eine Demonstration gegen die Konzerte von Rammstein angemeldet. Startpunkt ist der Theodor Heuss-Platz. Von hier geht es in Richtung Olympiastadion. Während der Aktion sollen auch Künstler:innen auftreten.
- Mehr Informationen zu der Arbeit von Act Aware gibt es hier
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