Berlinale 2024

„Small Things Like These“: Eine würdige Wahl für die Festivaleröffnung

Mit „Small Things Like These“ beginnt die Berlinale 2024. Es geht um ein nationales irisches Trauma: das Thema Missbrauch in katholischen Mädchenanstalten. Claire Keegan veröffentlichte 2021 die Romanvorlage, die Tim Mielants („Peaky Blinders“) nun nach einem Drehbuch von Emma Walsh mit Cillian Murphy beeindruckend verfilmt hat. tipBerlin-Filmkritiker Bert Rebhandl hat den Film gesehen.

Cillian Murphy in „Small Things Like These“. In der Hauptrolle des Berlinale-Eröffnungsfilms von Regisseur Tim Mielants: Cillian Murphy in einer wahrhaft großen Rolle.  Foto: Shane O’Connor
Cillian Murphy in „Small Things Like These“. In der Hauptrolle des Berlinale-Eröffnungsfilms von Regisseur Tim Mielants: Cillian Murphy in einer wahrhaft großen Rolle. Foto: Shane O’Connor

„Small Things Like These“: Superstar Cillian Murphy spielt die Hauptrolle

In der irischen Kleinstadt Wexford bereiten sich die Leute 1985 auf Weihnachten vor. Im Radio läuft „Come On Eileen“ von den Dexy’s Midnight Runners. Der Kohlenhändler Bill Furlong hat noch gut zu tun. Mit seinem gelben Lastwagen rattert er durch die Landschaft, um fossile Brennstoffe aller Art auszuliefern – selbst Torf wird hier noch verwendet. Bill ist ein anständiger Mann mit Frau und fünf Töchtern. Eine mustergültige Familie, die Mädchen sind lernwillig, alles drängt sich um den Küchentisch in der engen Wohnung.

Aber Bill ist seines Lebens nicht froh. Das sieht man vor allem daran, dass er nachts nicht schläft. Er sitzt dann in der Küche und starrt beim Fenster hinaus. Eigentlich aber starrt er in seine Vergangenheit. Er erinnert sich an den frühen Verlust der Mutter und an die Pflegemutter, bei der er aufwuchs. Er erinnert sich an das Drama seiner unehelichen Herkunft. Diese Erinnerungen kommen auch deswegen mit Macht zurück, weil er bei seiner Arbeit auf Umstände aufmerksam wird, die ihn nicht mehr loslassen.

In dem Kloster, wo er einen Schlüssel zum Kohlenkeller hat, beobachtet er immer wieder, wie junge Frauen gemaßregelt werden. Und eines Tages, als er besonders früh mit einer Lieferung vorbeikommt, entdeckt er sogar ein Mädchen in der bitteren Kälte auf den Kohlen – es wurde offensichtlich zur Strafe dort eingesperrt.

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„Small Things Like These“ nach einem Roman von Claire Keegan

Die Geschichte von Bill Furlong bringt ein nationales Trauma Irlands auf ein klassisches moralisches Format: Ein Mensch bemerkt etwas und muss sich entscheiden, ob er den allgemeinen Konsens stört oder ob er die Sache auf sich beruhen lässt. Das Kloster in Wexford wird von Nonnen geführt, eine Institution wie viele vergleichbare im Land, man nannte sie Magdalenenheime. „Gefallene“ Mädchen wurden dort untergebracht, ausgebeutet, gequält, alles unter dem Anschein der Fürsorge katholischer Ordensschwestern.

Claire Keegan veröffentlichte darüber 2021 den schmalen, dichten Roman „Small Things Like These“, den Tim Mielants („Peaky Blinders“) nun nach einem Drehbuch von Emma Walsh beeindruckend verfilmt hat. Üblicherweise würde man von einem Whistleblower-Drama sprechen, aber auf diese politische und nationale Ebene begibt sich der Film in keinem Moment. Er bleibt einfach bei Bill Furlong. Natürlich läuft der Film jetzt zur Eröffnung der Berlinale, weil Cillian Murphy diese Rolle spielt – als „Oppenheimer“ zählt der irische Star aktuell zu den Oscar-Favoriten.

Eine wahrhaft große Rolle für Cillian Murphy

In „Small Things Like These“ schafft er das Kunststück, uns eine zutiefst gebrochene und dabei vollkommen integre Figur ungeheuer nahe zu bringen. Eine wahrhaft große Rolle. Und Tim Mielants beschwört ein ländliches Irland herauf, das noch tief im 19. Jahrhundert zu stecken scheint, Ewigkeiten entfernt von dem neoliberalen Tech-Steuerparadies von heute.

Die Berlinale hatte in den letzten 30 Jahren oft peinliche Eröffnungsfilme, immer wieder einfach mittelmäßige Quotenware aus den Mühlen der Filmförderung. Dieses Jahr ist das anders: „Small Things Like These“ ist eine würdige Wahl, ein bewegender, künstlerisch komponierter Film. Nehmen wir ihn als gutes Omen für das Festival.


Auch bei der Berlinale 2024 spekulieren wir beim tipBerlin: Unser Bärometer ist die Chancen-Prognose für den Goldenen Bären. Im Fall von „Small Things Like These“ sagen wir: 70 Prozent. Gewonnen hat den Goldenen Bären dann am Ende der Dokumentarfilm „Dahomey“. Unsere Rezension zum Siegerfilm der Berlinale 2024.


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