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Interview

Ari Folman über „Wo ist Anne Frank?“: „Wir sollten alle Grenzen öffnen“

Ari Folman wurde mit einem Animationsfilm über den Libanonkrieg bekannt: „Waltz with Bashir“ wurde ein Welthit. Nun erzählt er die Geschichte von Anne Frank neu: das jüdische Mädchen, das sich in Amsterdam vor den Nazis versteckte, und schließlich doch ein Opfer des Holocaust wurde. Im Gespräch äußert Ari Folman sich auch zur heutigen Politik, und zwar ziemlich radikal.

„Wo ist Anne Frank?“ von Ari Folman. Foto: Farbfilm

Ari Folman: „Wir möchten Empathie für Kinder im Krieg schaffen“

tipBerlin Herr Folman, wie kamen Sie auf die Idee, einen neuen Film über Anne Frank zu machen, über das jüdische Mädchen, dessen Tagebuch weltweit als eines der wichtigsten Zeugnisse zum Thema Holocaust gelesen wird?

Ari Folman Vor zehn Jahren kam die Anne Frank Foundation auf mich zu. Es war deren Idee, für mich war die Geschichte auserzählt, ich dachte nicht, dass ich etwas Neues beitragen könnte. Dann las ich das Tagebuch wieder, ich sah, wie meine Kinder größer wurden, und was man ihnen in der Schule über diese Ereignisse des Holocaust beibrachte. Und schließlich verstand ich, was auch die Anne Frank Foundation, namentlich Otto Frank, im Sinn hatte: dass wir neue Dimensionen im Geschichtenerzählen brauchen, um ein jüngeres Publikum erreichen.

tipBerlin Anne Frank lebte in Amsterdam mit ihrer Familie in einer geheimen Wohnung, wurde aber schließlich doch verraten und von den Nazis ermordet. Sie verbinden ihr Schicksal mit dem von heutigen Menschen auf der Flucht.

Ari Folman Ich wollte nicht nur den ursprünglichen Inhalt mit heute verbinden, sondern ich wollte die Geschichte als ein Gefäß zu verwenden, um Mitgefühl hervorzubringen, um Empathie für Kinder in Kriegszonen schaffen. Das war auch für Otto Frank das zentrale Anliegen.

„Wo ist Anne Frank?“ von Ari Folman. Foto: Farbfilm

Ari Folman: „Anne kommt durch die Tinte ihrer Worte zu uns“

tipBerlin Es gibt ein sehr schönes Motiv in „Wo ist Anne Frank?“: aus der Tinte ihrer Worte werden Bilder. Schrift wird Bild.

Ari Folman Im Judaismus ist das Wort sehr wichtig. Ich habe einmal eine Szene gesehen, in der israelische Soldaten biblische Texte in die Luft geworfen haben, damit haben sie gleichsam das Land in Besitz genommen. Anne kommt durch die Tinte ihrer Worte zu uns, ich bin ein Animationsfilmregisseur, und mache Bilder daraus.

tipBerlin Sie stellen Anne eine Freundin bei, sie heißt Kitty, und steht auch für heutige Fragen an damals. Einmal fragt sie Anne, was es bedeutet, jüdisch zu sein. Die Antwort ist überraschend: Jüdisch sein ist eine Entscheidung, sagt sie.

Ari Folman Das fand ich bei meinen Recherchen. Meine beiden Eltern haben Auschwitz überlebt, mein Vater kam aus einer zionistischen Familie, die Familie meiner Mutter hat sich mit dem Judaismus überhaupt nicht identifiziert. Sie fanden einander im Ghetto, sie wurden beide von den Nazis als Juden selektiert. Dadurch bekamen sie eine Identität. Das ist auch der Beginn meiner jüdischen Identität. Mein Vater wurde von den Amerikanern befreit, das war sein Geburtstag. Es gibt keine Zeremonie, die dich zu einem Juden macht. Es ist eine Entscheidung.

„Wo ist Anne Frank?“ von Ari Folman. Foto: Farbfilm

tipBerlin Die beiden Gedenkorte in Amsterdam und im ehemaligen KZ Bergen-Belsen spielen im Film eine wichtige Rolle. Was macht diese beiden Orte aus?

Ari Folman Es gibt einen großen Unterschied zwischen den Orten. Ich mag das Anne Frank Haus in Amsterdam und die Idee dahinter gar nicht. Es ist eine Touristenfalle, eine Wohnung ohne Möbel. Es geht nur darum, mehr Tickets zu verkaufen und alle in den Souvenir Store zu leiten. In Bergen-Belsen hat man das sehr clever gelöst, es ist ein Park, man bekommt ein iPad, und man kann sich etwas vorstellen. Man wird zu nichts gezwungen. Ich habe eigentlich keinen anderen Ort gesehen, der das so klug gelöst hätte.

tipBerlin Den Tod von Anne erzählen Sie mit Bildern, die aus der griechischen Mythologie stammen.

Ari Folman Die visuellen Parallelen zwischen der Unterwelt und Auschwitz sind einfach stark. Boote und Züge, man muss seinen Besitz weggeben, es gibt eine Selektion bei der Ankunft, Mengele und Hades, die Hunde hier und da. So können wir es künstlerisch darstellen.

Ari Folman: „Das Leben hat unseren Film verändert“

tipBerlin Wie finden Sie die Hollywood-Version von George Stevens von der Geschichte Anne Franks?

Ari Folman Der Film beruht auf dem Broadway-Stück von Frances Goodrich und Albert Hackett, das Anne Frank überhaupt bekannt machte. Otto Frank sorgte damals für ein Filmende mit einem optimistischen Akzent, denn ihm lag sehr daran, das das Publikum die Erschütterung durch ihren Tod auch gut verarbeiten kann. Das Tagebuch hätte sich sonst nicht verkauft, und Anne Franks Traum, eine berühmte Schriftstellerin zu werden, hätte sich nicht erfüllt.

tipBerlin Worauf haben Sie bei den Gegenwartsbezügen des Films geachtet?

Ari Folman Das Leben hat den Film verändert. Die russische Invasion im Februar 2022 in der Ukraine hat alles verändert. Plötzlich gab es weiße Flüchtlinge. Damit wurde eine große Heuchelei deutlich. Polen hat drei Millionen aufgenommen, aber hätte das Land auch nur 300 oder 30 aus Zentralafrika aufgenommen? 2016, als ich den Film schrieb, dachte niemand an eine Invasion in der Ukraine. Erinnern Sie sich an die Bilder aus Afghanistan, als die Amerikaner abzogen? Junge Menschen haben sich an startende Flugzeuge geklammert und stürzten in den Tod. „Wo ist Anne Frank?“ hatte damals Premiere in Cannes, und ich sagte: Deswegen haben wir unseren Film gemacht!

Ari Folman, Filmemacher. Foto: Farbfilm

tipBerlin Wie soll ein Land wie Polen, oder Deutschland, mit Menschen auf der Flucht umgehen? Alle aufnehmen?

Ari Folman Absolut. Alle Grenzen öffnen.

Ari Folman: „Homogene Gesellschaften entwickeln sich nicht“

tipBerlin Was wären die Konsequenzen?

Ari Folman Wir hätten vielfältigere Nationen. Ich war in Polen auf einem Filmfestival. In einer Pause spazierte ich eine Promenade entlang und überlegte: Irgendwann stimmt nicht. Was ist so seltsam? Dann wurde mir klar: ich sah nur polnische Menschen. Alle sahen gleich aus. Homogene Gesellschaften entwickeln sich nicht. Die Probleme zu verleugnen, das erst schafft Rassismus, schafft Xenophobie.

tipBerlin Sie sind polnischer Staatsbürger, und israelischer. Welche Lösung sehen Sie für Israel/Palästina? Ein gemeinsamer Staat, in dem alle gleiche Bürgerrechte haben, nicht nur die Juden?

Ari Folman Absolut. Ich weiß, das ist utopisch und wird niemals passieren, aber es ist meine einzige Lösung. Wir fahren derzeit rasant auf eine Katastrophe zu. In sechs Monaten wird Israel nicht mehr wiederzuerkennen sein. Alle faschistischen Regierungen agieren sehr schnell. Sobald sie die Justiz umgebaut haben, ist es erledigt. Schon heute verlangen sie von Filmen, die von der Besatzung im Westjordanland berichten, die Förderung zurück. Das ist das Ende der Demokratie.

tipBerlin Würden Sie wirklich sagen, dass Israel ein faschistischer Staat wird? In Deutschland macht man sich mit einem solchen Satz als Antisemit verdächtig.

Ari Folman Ich kann es sagen, und ich stehe dazu.


Wo ist Anne Frank?

Belgien/Luxemburg 2021; 99 Min.; R: Ari Folman; Kinostart: 23.2.


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