Filmkritik

„Blue Jean“: Gefangen im homophoben Zeitgeist

„Blue Jean“ von Regisseurin Georgia Oakley beleuchtet ein dunkles Kapitel in der britischen Geschichte, das noch gar nicht so lange her ist: In den 1980er-Jahren war Homophobie noch in großen Teilen der Gesellschaft verbreitet, vor allem an Schulen. Lesbische Lehrerinnen hatten es dort besonders schwer. tipBerlin-Kritikerin Olga Baruk ist vor allem von der starken Hauptdarstellerin in „Blue Jean“ überzeugt.

Eine von vielen lesbischen Frauen, die sich in den 1980er Jahren aus Angst nicht outen konnten: „Blue Jean“. Foto: Salzgeber

„Blue Jean“-Darstellerin Rosy McEwen hat das, was man Aura nennt

Das Tolle an „Blue Jean“ ist seine Jean. Man schaut ihr gern zu, weil die Darstellerin Rosy McEwen, die vom Theater kommt und im Film noch ganz neu ist, das hat, was man Aura nennt. Ihr Spiel ist sparsam und zurückgenommen, und eher als Geheimnis angelegt, denn Jean hat eins zu hüten. Grau melierte Sweatshirts und eine Bomberjacke im dunklen Türkis. Ein leichter Gang, ein schweres Herz.

Noch zwei oder drei Dinge über sie: Ihr Gesicht ist schön, ihre Züge sind ruhig und fein. Sie trägt die Haare blond, die Stirn ist bedeckt und die Locken an den Seiten reichen ganz knapp über die Ohren. Dieses Haar ist ganz sicher nicht lang, aber auch nicht das, was man im klassischen Sinne kurz nennt. Und wenn man diese junge Frau kennenlernt, versteht man, dass der leicht undefinierte Schnitt von dem Wunsch zeugt, in verschiedene Welten hineinzupassen.

Das schlechte Wetter in Nordengland ist nicht der Grund für Jeans Traurigkeit, sondern vielmehr die homophobe Gesellschaft. Foto: Salzgeber

Jean ist blue, also traurig, etwas zerrt an ihr, doch der ewig trübe Himmel über dem nordenglischen Newcastle hat daran keine Schuld. Es ist 1988, Margaret Thatcher ist auf ihren Spitznamen „Iron Lady“ mächtig stolz, und das britische Parlament verabschiedet die Clause 28, ein Gesetz, das die „Förderung von homosexuellem Verhalten“ verbietet. An den staatlichen Schulen wie im gesamten öffentlichen Bereich gilt Homosexualität damit als nicht tolerabel.

Nicht Jean ist pervers, sondern die Situation, in der sie lebt

___STEADY_PAYWALL___

Bei den Recherchen für den Film hat die Regisseurin und Autorin Georgia Oakley mit Frauen wie Jean gesprochen – lesbische Lehrerinnen, die sich verstecken und verstellen mussten, um nicht aufzufallen. Man hatte Angst vor dem Outing. Was dem homophoben Zeitgeist in dieser Geschichte ein leichtes Spiel macht: Jean unterrichtet Sport. Wo Körperkontakt und Rivalitäten kaum vermieden werden können, sind Umkleidekabinen wie Minenfelder. Nicht Jean ist pervers, sondern die Situation, in der sie lebt.

Gerade Sportlehrerinnen wie „Blue Jean“ hatten es besonders schwer. Foto: Salzgeber

Es waren die Bilder der Frauen, die sich damals aus Protest von der Galerie des House of Lords abseilten, die Georgia Oakley auf die Idee zu dem Film brachten. Doch am Ende ist es nicht der Aktivismus, der sie interessiert, sondern dessen Verweigerung. Mit Jean zeichnet sie eine Frau, die nicht kämpfen will, die den steigenden toxischen Druck auf der einen Seite und den Widerstand der sich formierenden queeren Bewegung auf der anderen am liebsten ausgesessen hätte. Im Kreis ihrer lesbischen Freundinnen, die freizügig feiern, gilt sie als nicht lesbisch genug. Ein Reh im Scheinwerferlicht, sagen sie. Nicht alles ist politisch, hält Jean dagegen. Schön wär’s, aber das stimmt so natürlich nicht.

Das Tolle an „Blue Jean“ ist aber nicht nur Jean, sondern sind alle weiblichen Figuren und ihre Darstellerinnen, jede für sich. Zum Beispiel Jeans Freundin Viv (Kerrie Hayes): Nach außen Punk, im Inneren sanft und großzügig liebend. Oder Lois (Lucy Halliday), eine Schülerin mit vor Wut glühenden Lippen. Eine Außenseiterin, die sich mit teeniehafter Staksigkeit zu wehren weiß. Es sind kleine Dinge und kleine Siege, die ein Leben ausmachen. Nach vielen falschen Entscheidungen wird Jean eine richtige treffen. Als der Film endet, beginnt in Newcastle der Frühling.

  • Blue Jean Großbritannien 2022; 97 Min.; R: Georgia Oakley; D: Rosy McEwen, Kerrie Hayes, Lucy Halliday; Kinostart: 5.10.

Mehr zum Thema

Bestseller auf der Leinwand: „Die Mittagsfrau“-Regisseurin Barbara Albert über starke Frauen. Auch eine starke Frau, nur ein bisschen übernatürlicher: „The Nun 2“ besprechen wir hier. Lakonisch wie eh und je: „Fallende Blätter“ von Aki Kaurismäki. Unsere Autorin ist begeistert: „Past Lives“ – hier ist die Filmkritik. Ein schrecklich guter Film: Die Iran-Doku „Sieben Winter in Teheran“ nimmt die Todesstrafe in den Blick. Und im Interview mit Regisseurin Steffi Niederzoll lest ihr, warum der Film über die Todesstrafe so wichtig ist. In der teuersten Serie Deutschlands wird es schmutzig, laut und wild: Zum Start der vierten Staffel von „Babylon Berlin“ briefen wir euch nochmal. Ihr wollt weiter in der ARD-Mediathek bingewatchen? Wir haben uns für euch die Berlin-Dokureihe „Capital B“ angeschaut. Was läuft sonst? Hier ist das aktuelle Kinoprogramm für Berlin. Mehr aus der Filmwelt lest ihr in unserer Kino-Rubrik. Euch fehlt der Überblick über die Berliner Filmfestivals? Die besten Festivals übers Jahr verteilt haben wir hier zusammengetragen. Und wenn die Filmfestspiele laufen, erfahrt ihr in unserer Berlinale-Rubrik alles darüber.

Tip Berlin - Support your local Stadtmagazin