Eigentlich eine großartige Idee: Die Boros-Foundation kennt sich mit Kunst in Bunkern aus, das Berghain, in seiner Anmutung nicht weit davon entfernt, steht Pandemie-bedingt leer – warum nicht den verwaisten Club zum Ausstellungsraum machen. Im „Studio Berlin“ geschah das im Spätsommer. Nach wenigen Wochen kam der erneute Lockdown, die Erfolgsgeschichte ist mindestens unterbrochen. Nun ist im Distanz-Verlag der Katalog erschienen.
„Studio Berlin“: Bestandsaufnahme von 118 Künstler*innen im Berghain
Tatsächlich wird der Aufwand, der für die Ausstellung betrieben wurde, in dem Katalog manifestiert. 118 zeitgenössische Künstler*innen erschufen eine der spannendsten Kunstschauen des Sommers – nicht nur aus Ermangelung an Alternativen. Die besondere Herausforderung, von der Karen Boros auch bei der Eröffnung von „Studio Berlin“ Anfang September sprach: die Logistik. In Zeiten einer Pandemie werden Austausch, wird auch Transport zu einem anderen Aufwand als sonst.
Aber es gab auch Dinge, die einfacher waren: die Kunstschaffenden zu treffen etwa. „Abgeschnitten von allen Ausstellungsvorhaben, die sie über über den Globus verstreuen, befanden sich die in Berlin ansässigen Künstler*innen in ihren Ateliers“, heißt es im Vorwort von Karen und Christian Boros mit Juliet Kothe. Entsprechend der Name „Studio Berlin“, entsprechend die lose Zusammensetzung der Kunstwerke: Anstatt sich in einem lange geplanten Oberthema verwirklichen zu können, wurde das Projekt zu einer Bestandsaufnahme. Mit Werken, die schon fertig waren, die eigentlich hätten woanders gezeigt werden sollen, aber auch solchen, die extra geschaffen wurden für das Berghain. Die Ausstellung als Gesamtkunstwerk, als Input, aber auch als Bühne geplatzter Pläne.
Katalog zu „Studio Berlin“ zeigt auch die Kunst, die immer im Berghain zu sehen ist
Wie vielseitig, wie besonders die in Berlin entstandene Kunst der vergangenen Monate und Jahre ist, spiegelt sich in der hohen Teilnehmer*innen-Zahl, die wiederum den Katalog einem veritablen Brocken macht; 480 Seiten zeigen nicht nur die verschiedenen direkt für die Ausstellung ausgewählten Werke. Sondern auch all die Kunst, die sonst ohnehin im legendären Club ausgestellt ist. Seit jeher vereinte das Berghain nicht nur Techno und Exzess, sondern eben auch darüber hinaus Kunstrichtungen. Ballett, Orchesterkonzerte, eine eigene Ausstellung zum Geburtstag – das ehemalige Heizkraftwerk war nie nur ein Club, aber immer auch. Bis jetzt.
Entsprechend fügt sich vieles in die beeindruckenden Räumlichkeiten ein, die ohne Standardbetrieb anders genutzt werden können. Nicht nur Klang- und Videoinstallationen, auch Subtiles, das im Dunkel der Klubnacht, so der Normalbetrieb zurückkehrt, vielen Gästen vielleicht verborgen bleibt. Etwa die Gravur in eine der stählernen Toilettenwände neben der Berghain-Tanzfläche, „The Land of Cockaigne“ von Herman Pleij, der sich auf ein Bild von Pieter Bruegel bezieht und eine Parodie des Paradieses abbildet.
Exzessives, aber auch Politisches, Sexuelles, Entrücktes und sehr Offenes sind im „Studio Berlin“ vereint, jedes Werk ein Puzzle-Teil der Stadt.
Rausch der Eindrücke: Eine Ausstellung wie eine Klubnacht – und Einsichten in verschlossene Räume
Vor allem im Berghain, der Panorama Bar und der Säule integriert sich die Kunst in das Umfeld. In der Halle des Berghains bekommt „Studio Berlin“ mehr Ausstellungscharakter, kann in der Vielzahl an Werken fast überfordernd wirken. Das ist allerdings etwas, das auch einer regulären Partynacht zu eigen ist: eine Vielzahl an Eindrücken, deren Sinn sich sich immer neu definiert. So gut ist die Ausstellung „Studio Berlin“ im Berghain.
Der Katalog ergänzt diesen Rausch der Eindrücke entsprechend ruhig, Künstler*innen kommen zu Wort, erlauben einen geschärfteren Blick auf Einzelnes. Und nur darauf: Auch in diesem Kontext gilt das strikte Fotoverbot des Berghains. Hintergründe, in denen der Club zu sehen ist, wurden bearbeitet, sind nun verschwommen. Schade, da auch und gerade das ein Teil der Wirkung des „Studio Berlin“ war: Für viele Menschen war es ein Einblick in einen Ort, der ihnen sonst verschlossen ist. Und auch für Berghain-Stammkund*innen war die Sicht in die ausnahmsweise mal leeren und gut beleuchteten Innereien ihres Techno-Mekkas ein besonderes Gefühl.
Katalog zu „Studio Berlin“ ist Zeugnis einer schweren Zeit, aber auch Dokumentation der Kreativität
Der Katalog zur Ausstellung werde „dafür sorgen, dass die Erinnerung an dieses Projekt auch dann noch fortlebt und die Vielschichtigkeit der ausgestellten Positionen dokumentiert bleibt, wenn die Pandemie Vergangenheit ist und in den Hallen des Berghains wieder getanzt werden kann“, schreibt Kultursenator Klaus Lederer – der Senat förderte „Studio Berlin“ finanziell – und ging zu diesem Zeitpunkt wohl auch noch davon aus, dass sie wie geplant mindestens bis Ende des Jahres laufen würde.
Der zweite Lockdown, der selbst in der Light-Version bereits die Museen traf, unterbrach dies Vorhaben nun. Wann und wie genau die Wiedereröffnung stattfindet, ist unklar. Dass die Räume des Berghains noch eine Weile leer stehen werden, darf dagegen als gesetzt betrachtet werden. Der Roll-out der Impfung wird langsam voran gehen, Tanzevents in geschlossenen Räumen mit Hunderten, gar Tausenden dürften wohl eine der letzten Bastionen der Normalität sein, die wir zurückerobern.
Auch daran erinnert uns der Katalog, erinnert uns diese Ausstellung – beides aus einer Not heraus geboren, ein Reclaiming dessen, was uns Corona nahm, wenngleich nur ein Zwischenspiel auf dem Weg zurück. Dass nebenbei eine Werkschau einer vitalen, diversen Kulturszene einer besonderen Stadt geschaffen wurde, macht „Studio Berlin“ auch langfristig zu einem wichtigen Ereignis.
- Deutsch/Englisch, 2020, 480 Seiten, zahlreiche Farbabbildungen, Softcover, ISBN 978-3-95476-369-6, Herausgeber.: Boros Foundation, Verlag: DISTANZ Verlag, zu bestellen z.B. beim Berghain und beim Distanz-Verlag
Viele Betriebe machen mit der neuen Kampagne #GeschlossenFürMorgen auf die Not der Kulturszene aufmerksam. Wer bis zur Wiedereröffnung Zuhause feiern will, findet hier Tipps fürs Club-Feeling allein. Ihr wollt euch jetzt schon auf das Re-Opening vorbereiten? So kommt ihr ins Berghain. Vielleicht. Türsteher Sven Marquardt hat übrigens seine eigene Ausstellung im Friedrichstadt-Palast gestartet – die allerdings auch derzeit auf Eis liegt.