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West-Berlin-Roman

Sven Regener über seinen neuen Roman „Glitterschnitter“: Ach, die sind alle lustig

Sven Regener hat wieder einen wunderbar durchgeknallten Lehmann-Roman geschrieben: „Glitterschnitter“. Im Interview spricht er über meterhohe Strandkorbkonzertbühnen, auf denen er mit seiner Band Element of Crime spielte. Und über Milchschaum-Ehrgeiz im 80er-West-Berlin, einen elektrisch verstärkten Eierschneider, riesige Wurstplatten und Berliner Unfreundlichkeit.

Sven Regener am Tisch. Foto: Charlotte Coltermann
Sven Regener: Musiker bei Element of Crime – und Bestsellerautor. Neues Buch: „Glitterschnitter“. Foto: Charlotte Goltermann

Sven Regener und sein neuer Roman „Glitterschnitter“: 20 Jahre nach dem Debüt „Herr Lehmann“

tipBerlin Herr Regener, Glückwunsch zum 20. Geburtstag von „Herr Lehmann“, Ihrem gigantisch erfolgreichen Romandebüt!

Sven Regener Stimmt, August 2001. Na sauber, danke!

tipBerlin Wobei ja das erste „Herr Lehmann“-Kapitel auf Ihre Kurzgeschichte „Der Hund“ zurückgeht, die Sie schon 1991 geschrieben haben, weshalb ich eigentlich zu 30 Jahren „Ur-Herr Lehmann“ gratulieren müsste…

Sven Regener Eine Freundin von mir wurde im selben Jahr wie ich 30, da habe ich die Geschichte für sie als Geburtstagsgeschenk geschrieben.

tipBerlin Geben Sie was auf Jahrestage? Mit Kerzen, Schulterklopfen, „Haste jut jemacht“?

Sven Regener Nee, das ist nicht mein Ding. Sieht man ja bei Element of Crime. Wir haben nie Jubiläumstourneen gemacht. Ich bin auch geburtstagsmäßig völlig unmusikalisch.

tipBerlin Ihr 60. Geburtstag am 1. Januar wäre ja Corona-bedingt sowieso klein ausgefallen.

Sven Regener Ich feiere Geburtstage seit meinem 13., glaube ich, nicht mehr. Ob ich nun 59 oder 60 bin: Das sagt mir überhaupt nichts.

Sven Regener über Strandkorbkonzerte: Die Leute klatschen und du hörst eigentlich nichts

tipBerlin Ist es Zufall, dass Ihr neuer Roman „Glitterschnitter“ gerade jetzt, nach eineinhalb Jahren Pandemie, erscheint? Was man halt so macht als Bühnenkünstler, wenn man nicht auftreten darf. Podcasts aufnehmen, ein neues Buch schreiben…

Sven Regener Ich hatte das Buch schon geplant, hatte die Idee, auch schon ein bisschen was skizziert, wollte aber eigentlich später anfangen mit dem Schreiben, im letzten Herbst. Aber dann fielen im Sommer 2020 alle Konzerte aus, also habe ich früher angefangen mit dem Buch.

tipBerlin Immerhin konnte Element of Crime jetzt wieder ein paar Konzerte geben. Strandkorbkonzerte zum Beispiel. Wie war’s?

Sven Regener Die Leute klatschen und du hörst eigentlich nichts. Erstens sind die 30, 40 Meter weit weg. Und dann stehen da eben diese Strandkörbe, die gehen so ewig weit. Deswegen ist auch die Bühne zehn Meter hoch, bizarr!

tipBerlin Stagediving ist da keine gute Idee.

Sven Regener Ich bin sehr froh, dass ich mir das nie angewöhnt habe!

Sven Regener und die Knalltüten aus der Wiener Straße: Die machen Sachen!

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tipBerlin Ihre Bücher fühlen sich an, als würde man alle paar Jahre vertraute Knalltüten von früher treffen. Wie den schwäbische Kneipen-Betreiber Erwin Kächele, den Österreicher P. Immel mit seiner ArschArt-Künstlergruppe, den Aktionskünstler H.R.Ledigt, die junge Chrissy und ihre Mutter. Und natürlich Frank Lehmann aus Bremen. Mit wem von denen würden Sie ein Bier trinken gehen?

Sven Regener Ach, die sind alle lustig. Ich könnte natürlich nicht über sie schreiben, wenn die nicht auch was von mir hätten. Da liegt sicher eine multiple Persönlichkeitsspaltung vor, da muss man aufpassen, dass das nicht pathologisch wird. Die machen Sachen, da denke ich: Uiii! Dabei habe ich mir das gerade selbst ausgedacht! Wenn ich beim Schreiben ein Bier trinken würde, dann würde ich also eigentlich mit all diesen Leuten schon ein Bier trinken.

Jungschriftsteller Sven Regener mit seinem Debütroman „Herr Lehmann“ im Erscheinungsjahr 2001: „Na sauber, danke.“ Foto: www.imago/teutopress

tipBerlin Die Handlung schließt direkt an „Der kleine Bruder“ und „Wiener Straße“ Ende 1980 an. Und erzählt wieder, wie vorher erstmals „Wiener Straße“, aus vielen Perspektiven.

Sven Regener Bei „Glitterschnitter“ ist das noch mehr ­explodiert, noch mehr Personal, fast so ein ­Panorama- oder Wimmelbild. Wo sind wir gerade? Wer spricht jetzt hier? Bei „Wiener Straße“ war mir das eher passiert als geplant. Das sollte eigentlich eine Fernsehserie werden. Am Ende von „Der kleine Bruder“ wohnen die ja alle in der WG über dieser Kneipe…

tipBerlin … dem Café Einfall, in dem Frank Lehmann, nachdem er von Bremen nach Berlin gezogen ist, zu arbeiten beginnt…

Sven Regener …und sollten so ein bisschen wie bei „Cheers“ situationskomisch ihren Kram machen. Ich hatte um die drei Episoden geschrieben, dann kam das nicht aus dem Knick. Diese ganze Film- und Fernsehindustrie ist ja furchtbar! Ich weiß gar nicht, wie die Akteure das aushalten. Da gibt es Regisseure, die haben ein Drehbuch, dann warten die drei, vier, fünf Jahre darauf, dass sie anfangen dürfen. Da habe ich keine Geduld für!

Frank Lehmann und der Milchschäumer

tipBerlin Ihre Romane bilden fast schon ein eigenes Genre mit diesen rhythmisch perfekt verzweigten Laber-Monologen und -Dialogen.

Sven Regener Ich weiß nicht. Es gibt auch andere Autoren, die sowas ganz gern machen. Thomas ­Bernhard, HC Artmann, Eckhard Henscheid, aber ich habe sicher einen eigenen Stil dabei. Und Spaß daran, dass ist sicher das Wichtigste. Dabei hilft, dass ich diese Personen immer wieder besuche, da geht dann einiges in Sachen Dialoge.

tipBerlin Die erste Neuerung im Café Einfall ist ein Milchschäumer, den Frank Lehmann bedienen will. Kneipenbesitzer Erwin Kächele findet das doof. In den Kühlschrank gehört für ihn nicht Milch, sondern Bier.

Sven Regener Erwin sagt: Hatten wir schon mal, da wird uns die Milch schlecht, das kostet nur Geld.

tipBerlin In „Herr Lehmann“, der neun Jahre später spielt, beömmeln sich Frank und Karl: „Wir sind keine Milchkaffeeschäumer.“

Sven Regener Das ist genau diese Abgrenzung, die man dann später macht. Dieses Frühstückscaféding in den frühen 80ern war Wahnsinn.

tipBerlin Riesige Wurstplatten und viel Milchkaffee!

Sven Regener Unfassbar! In Hamburg bekamst du Frühstück nur bis elf oder so. In Berlin überall bis 15, 16 Uhr. Fand ich auch cool. Diese Riesenteller, das aufgeschnittene Obst, das Müsli. Und Milchkaffee, Milchkaffee, Milchkaffee. Und immer diese Schalen. Das war ganz wichtig. Ein Riesending.

tipBerlin 1982, als Sie selbst von Bremen nach Berlin zogen, fing das ja gerade erst an.

Sven Regener Das war für mich damals neu. Dass erstens Frühstück so eine große Rolle spielte, die Leute auch so viel Zeit hatten. In Hamburg und auch Bremen waren die Szenen eher klein, die Freaks und Bohemians weniger. Die Menschen hatten eigentlich alle Arbeit. Frühstück um zehn? Im äußersten Notfall!

Glitterschnitter, das Saxophon und die Bohrmaschine

tipBerlin „Glitterschnitter“ heißt die Band von Ferdi, Raimund und Karl Schmidt. Karl bedient dabei eine Bohrmaschine. Man denkt da, logisch, an die Einstürzenden Neubauten.

Sven Regener Viele Performance-Gruppen und Bands hatten damals einen Noise-Anteil, wo man mit Stahl, Beton, und Werkzeugen Sounds machte. Aber auch diese gesampelten Sachen. Das waren nicht nur die Neubauten, sondern auch zum Beispiel Fad Gadget und wer nicht alles. Später kamen auch Bands wie King Kurt. Die haben Eier und Mehl ins Publikum geworfen.

tipBerlin Zu Glitterschnitter stößt eine junge Frau namens Lisa, die dazu Saxophon spielen will.

Sven Regener Die 80er waren ein Saxophon-Jahrzehnt! Bei Zatopek spielten damals drei Saxophonisten, die waren alle auch unfassbar gut.

tipBerlin Zatopek war Ihre erste Band in Berlin.

Sven Regener Das war Ende 1982, dass ich da reinkam. Dann haben wir gleich eine Platte aufgenommen, 1983 gab’s eine Tournee, und dann war ich auch schon wieder raus.

Sven Regener: Als Trompeter in West-Berlin der frühen 80er ein Exot

Element of Crime-Musiker Regener beim Gestival Heimspiel Knyphausen im Juli 2017 in Eltville: „Alle spielten Saxophon“. Foto: IMAGO / opokupix

tipBerlin Waren Sie als Trompeter damals ein Exot?

Sven Regener Alle spielten Saxophon und kein Schwein Trompete. Eigentlich gab es in der Szene nur zwei, die Trompete spielten. Juri von „Flucht nach vorn“ und ich. Ich war kein besonders guter Trompeter, ich konnte wenig üben. Ich wäre fast aus meiner Wohnung in Schöneberg rausgeflogen, als ich da mal geübt habe.

tipBerlin Das Ziel von Glitterschnitter ist ein vom Senat gefördertes Festival: Wall City Noise.

Sven Regener Teilweise machte man damals wirklich solche Projekte nur, um einmal auf so einem Festival zu spielen. Ich hatte mal mit Orm Finnendahl, der ist heute Kompositionsprofessor in Frankfurt und hat auch öfter für Element of Crime Streicherarrangements gemacht, und Jürgen Kratzer, der war Schlagzeuger bei Neue Liebe, ein Projekt gemacht, das hieß „Sportlerchor“. Und nur, weil wir beim Festival Berlin Atonal spielen wollten, das war da gerade neu. Wir machten also wie Glitterschnitter so eine Kassette, schickten die hin und haben nie wieder was davon gehört.

tipBerlin Sie wurden nicht zum Atonal eingeladen?

Sven Regener Nein. Das hat Dimitri Leningrad damals ­organisiert und…

tipBerlin Bitte wer?

Sven Regener Dimitri Hegemann, der hieß damals Dimitri Leningrad, wegen seiner Band Leningrad Sandwich, glaube ich. Ich kannte ihn nicht gut genug, um beim Atonal reinzukommen. Eigentlich kannte ich ihn gar nicht. Und Sportlerchor hatte ja auch weiter nichts zu bieten als diese eine Kassette. Aber da war ein Stück drauf, das war das erste Stück, auf dem ich je gesungen habe, und das hieß: „Jeder Trottel in der Stadt spielt Saxophon“. Das war 1983 oder ’84.

Musik mit dem elektrisch verstärkten Eierschneider

tipBerlin P. Immel spielt in der Band Dr. Votz einen Eierschneider. Wie stimmt man den?

Sven Regener Das muss man Harry Rag fragen, den Sänger von S.Y.P.H. Bei dem habe ich das geklaut.

tipBerlin S.Y.P.H. war eine Punkband aus Solingen, die Ende der 70er zu den ersten Vorreitern der Neuen Deutschen Welle gehörte.

Sven Regener Die habe ich den 80ern oder frühen 90ern im Loft gesehen. Und Harry Rag hatte einen elektrisch verstärkten Eierschneider dabei, der einem Sicherheitsgurt hing. Das habe ich mir ausgeliehen für P. Immel. Dank an ­Harry Rag!

tipBerlin ArschArt, P. Immel, Dr. Votz: Klangen viele Künstlernamen in West-Berlin wirklich nach Penis-Witzen auf dem Schulhof?

Sven Regener Das kam ja alles in der Postpunk-Phase hoch, da gab es jede Menge provokante Sachen. Die Endart-Galerie hatte zum Beispiel eine Band, die hieß „Professor Fut“, und einer ihrer führenden Leute hieß Anus. Auch die Kunst war sehr drastisch, sehr explizit. Wenn normale Menschen zu dieser Zeit Wörter wie „Scheiße“ und „Arsch“ benutzten, wirkte das sehr befremdlich. Das tat man nicht. Dass so ein Wort im Fernsehen fällt: völlig undenkbar! Da sagte man dann stattdessen: Scheibenkleister! Deshalb taugte das gut zur ­Provokation.

Sven Regener: Ich nehme die West-Berliner Konzeptkünstler ernst!

tipBerlin Machen Sie sich eigentlich über die West-Berliner Konzeptkünstler, die Aktionsmusiker, die Hausbesetzer, die, Zitate aus dem Buch, „Kunstbetriebswichserei“, die „Beipackzettelkunst“ lustig?

Sven Regener Nein, ich nehme das ernst. Ich habe bei Interviews zu Wiener Straße schon manchmal den Begriff Pseudokünstler gehört, aber das sind keine Pseudokünstler, das sind Künstler! H.R. Ledigt könnte genauso gut einer wie Martin Kippenberger sein.

tipBerlin Der Aktionskünstler will während des Auftritts von Glitterschnitter, den die Band braucht, ein Bühnenbild malen.

Sven Regener H.R. Ledigt ist da ja sehr souverän. Nach dem Motto: Ist mir doch egal, ob ihr das gut findet! Schon schade, dass ihr das nicht versteht. Aber eigentlich ist es mir auch egal. Auch wenn ihr das nicht haben wollt: Ich mach das sowieso! – Das kommt aus ihm selbst heraus, ist ihm ein Bedürfnis, und das macht ihn stark und unabhängig.

tipBerlin Dann baut er halt auch diese Ikea-Musterwohnung daheim als Kunstobjekt nach.

Sven Regener Und das macht ihn zu einem guten Künstler, weil er genau weiß, was er will und keine Rücksicht darauf nimmt, was die Leute sagen. Was ja auch immer ein Fehler wäre als Künstler: auf andere Rücksicht nehmen. Genau wie Raimund am Schlagzeug, der sagt: „Wenn die Trommeln sprechen, dann schweigt der Kummer.“

tipBerlin Ein verdammt schöner Satz übrigens!

Sven Regener Raimund genügt sich da auch selbst. Das ist eine großartige Form von nerdigem Künstlertum, das große Werke hervorbringen kann. Und ob das jetzt wirklich toll ist oder nicht, wissen wir ja gar nicht. Wir wissen nicht, was die da spielen. Wir wissen nur, dass die Trommeln trommeln, der Synthie piepst und Bohrmaschine rattert. Das sind alles Leute, die ihren Weg suchen und dabei alles Mögliche ausprobieren. Das hat natürlich auch seine witzige Seite. Humor ist kalt. Wie Freud sagt: „Humor ist Lustgewinn durch ersparten Gefühlsaufwand.“ Und da es sehr viel um Gefühle geht in diesem Buch, ist Humor wichtig. Sonst wird’s zu anstrengend, zu bedrückend.

Sven Regener: Wo Touristen sind, sind gelbe Geldautomaten. Und keine Frühstückscafés

tipBerlin Gehen Sie eigentlich noch in die Madonna-Bar in die Wiener Straße, die ein Vorbild für das Café Einfall ist?

Sven Regener Bei „Wiener Straße“ war ich öfter mal für Interviews da, manche wollten da filmen, jetzt auch noch mal. Das Madonna, das ja sicher ein bisschen das Vorbild für das Café Einfall ist, jedenfalls von der Lage in der Straße her, macht jetzt erst wieder um 18 Uhr auf. Alles macht in Kreuzberg erst um 17, 18 Uhr auf. Es gibt gar keine oder kaum noch Cafés wie früher! Wenn man da tagsüber einen Kaffee trinken will, wird es in der ganzen Gegend jenseits der Bäckereien mit ihren Vollautomaten echt schwer. Und ich glaube, das hat damit zu tun, dass das eigentliche Geschäft in Kreuzberg 36 mit Touristen gemacht wurde in den letzten zehn Jahren. Man merkt das, weil da überall diese gelben Geldautomaten stehen. Die sind immer dort, wo viele Touristen sind.

tipBerlin Kein Frühstück mehr, nirgends?

Sven Regener Das ist auch irgendwie vorbei, ja. Es gab das Café Marx am Spreewaldplatz, das gibt’s auch nicht mehr. Wie auch das Morena. Irgendwie sind die alle verschwunden. Das Madonna hatte früher auch ab 10 Uhr auf. Aber ich kriege auch nicht mehr alles mit, ich wohne ja seit 1997 nicht mehr in der Gegend. Man fährt ja nicht alle paar Wochen hin und guckt nach, was sich jetzt wieder verändert hat.

tipBerlin „Der kleine Bruder“, „Wiener Straße“ und „Glitterschnitter“ spielen in einem Zeitraum von gerade mal drei Wochen.

Sven Regener Das ist eigentlich ziemlich lang. Ein Buch wie „Ulysses“ spielt an einem einzigen Tag. Die Frage ist immer, was man erzählen will. Mich interessiert ja vor allem, was zwischen den Leuten passiert. Und das ist zeitlos. Mit der Tatsache, dass es keine Handys gibt, hat das nichts zu tun. Aber natürlich macht es beim Schreiben auch Spaß, diesen ganzen Zeitkolorit reinzuballern. Zum Beispiel, dass die Österreicher, weil sie Heimweh nach Wien haben, eigentlich immer eine Melange wollen. Und dann der furchtbare deutsche Kaffee. Und diese typische Expat-Geschichte, dass man den Ort, wo man gerade ist, total scheiße findet.

Sven Regener über die Berliner Unfreundlichkeit: Das hat auch seine Vorteile

tipBerlin Einmal heißt es: „Nirgendwo je hatte P. Immel sich so frei gefühlt wie in Westberlin, weil hier alles, aber auch wirklich alles total scheißegal war, aber der Preis dafür waren Kälte und Gnadenlosigkeit, das hatte er von Anfang an gespürt…“

Sven Regener Ich habe auch die ersten drei Jahre in West-Berlin nur gemeckert!

tipBerlin Worüber denn so?

Sven Regener Ach, über Berlin an sich. Die Kälte zwischen den Leuten, die Unfreundlichkeit. Und viele sagten zu Recht: „Dann geh doch einfach wieder nach Bremen!“ Und das war natürlich das Letzte, was ich wollte. Wenn du jung bist, denkst du, dass alles, was dir gegenüber unfreundlich ist, persönlich gemeint ist. Man braucht ein, zwei Jahre in Berlin, um zu lernen, dass das überhaupt nichts mit einem selbst zu tun hat. Dass die das bei allen so machen.

tipBerlin In der Corona-Zeit ist Berlin ja auch nicht unbedingt freundlicher geworden.

Sven Regener Das kann ich nicht beurteilen. Aber im Grunde ist es auch ein Element von Freiheit, wenn sich die Leute erlauben können, auch mal nicht freundlich zu sein. Dass es ihnen egal ist. Wie ihnen viele Dinge egal sind. Ich kenne einen, der hat sich früher, wenn er betrunken war, immer in der U-Bahn ausgezogen. Stand da nackt rum, seine Klamotten unterm Arm. Hat keine Sau interessiert!

tipBerlin Die BVG hatte auch mal dieses Lied „Is mir egal“.

Sven Regener Das hat ja Vorteile. Man zieht schließlich, wie ich, nicht umsonst aus einer kleineren Stadt weg. Ich wollte in eine größere Stadt, in der ich mich unbeobachtet fühlte. Und man zahlt dafür einen Preis. Das ist vielleicht ein bisschen die geheime Sub-Geschichte des Buches. Welchen Preis zahlt man eigentlich dafür, dass man so ein Leben führt?


Sven Regener und die Lehmann-Romane: Die Reihenfolge der Handlung nach

Leander Haußmanns „Herr Lehmann“-Verfilmung von 2003 mit Christian Ulmen. Foto: imago images / Mary Evans / Boje Buck Produktion GmbH

Mit „Herr Lehmann“ erschien vor 20 Jahren Sven Regeners erster, von Leander Haußmann 2003 verfilmter Roman um den jungen Bremer Frank Lehmann, der in Kreuzberg im November 1989 spielt. Wir haben „Herr Lehmann“ in unsere Liste der 100 Berlin-Romane, die man gelesen haben muss, aufgenommen.

Sortiert man die Romane nach Handlungszeit, beginnt die Geschichte 1980 in Bremen mit „Neue Vahr Süd“ (2004), an dessen Ende Lehmann nach West-Berlin fährt. Die Romane „Der kleine Bruder“ (2008), „Wiener Straße“ (2017) und jetzt „Glitterschnitter“ schließen Ende 1980 unmittelbar aneinander an. Dazwischen springt „Magical oder: die Rückkehr des Karl Schmidt“ (2013) ins Techno-Jahr 1995 vor – ohne Frank Lehmann. „Magical Mystery“ hat Arne Feldhusen 2017 mit einem großartigen Charly Hübner als Karl Schmidt verfilmt.

  • Glitterschnitter von Sven Regener, Galiani Berlin, 480 S., 22 €;
  • Buchpremiere Großer Sendesaal des rbb, Masurenallee 8–14, Charlottenburg, Sa 25.9., 19 Uhr, ausverkauft, live auf Radioeins

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Element of Crime im Gespräch über Berlin, Bohrmaschinen und das Meer. Wie gut ist euer Gedächtnis, ihr ehemaligen West-Berliner:innen? Diese 12 Dinge könntet ihr dann noch kennen. Vielleicht seid ihr sogar auf den Fotos von Christian Schulz drauf. Der hat die Menschen in West-Berlin damals fotografiert. Ein trauriger Jahrestag: Vor 40 Jahren verstarb der Hausbesetzer Klaus-Jürgen Rattay bei einem Polizeieinsatz. Der Roman „Aufprall“ erfasste das Lebensgefühl des wilden West-Berlin in den 80er-Jahren sehr eindrücklich. Wir sprachen mit dem Autorentrio von „Aufprall“, der Künstlerin Bettina Munk, der Schriftstellerin Karin Wieland und dem Soziologe Heinz Bude.

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