Filmkritik

„Die Purpursegel“: Das beste moderne Märchen im Kino

Mit seinen ebenso poetischen wie politischen Filmen ist Pietro Marcello ein neuer Star im europäischen Kino geworden: „Die Purpursegel“ erzählt von einem Mädchen, dem ein Märchenprinz verheißen wird. tip-Kritiker Bert Rebhandl verleiht dem Film die Höchstpunktzahl. Hier erfahrt ihr, was das moderne Märchen so besonders macht.

Rot liegt in der Luft: Juliette (Juliette Jouan) lebt in “Die Purpursegel” auf einem „Hof der Wunder“. Foto: Piffl Medien

„Die Purpursegel“: Die ewige Faszination vom Meer

Das Kino war immer schon fasziniert vom Meer. Das hat wohl einfach mit diesem Spiel der Wellen zu tun, dem man sich auch als Tourist gern überlässt: ein regelmäßiger Rhythmus, in dem sich doch niemals etwas wiederholt. Wir spüren am Meer etwas von der Magie des Atmens, und wenn es nicht gerade heftig stürmt, dann sind Wellen enorm beruhigend.

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Der italienische Regisseur Pietro Marcello hat nun eine der großen Meeresromanzen verfilmt: „Die Purpursegel“ beruht auf einer 1923 erschienenen Geschichte des russischen Klassikers Alexander Grin. Ein modernes Märchen, in dem einem Mädchen verheißen wird, dass eines Tages ein Schiff am Horizont auftauchen wird. Es wird die große Liebe bringen. Und so schaut Assol, die Hauptfigur, eben jeden Tag nach, ob sich auf dem Meer etwas zeigt. Das Buch ist in einem ganz eigentümlichen Tonfall geschrieben, ein wenig verträumt und dabei sehr genau auf die Geheimnisse verletzlicher Seelen bedacht. Wer jemals die Gelegenheit hatte, mit Pietro Marcello zu sprechen, wird schnell begreifen, dass da eine Wahlverwandtschaft besteht. Für den tipBerlin ergab sich eine solche Gelegenheit im vergangenen Dezember am Rand der Französischen Filmwoche.

Pietro Marcello: Ein neuer Star im europäischen Kino

Marcello ist vielleicht gar nicht so sehr ein italienischer Filmemacher als ein neapolitanischer oder ein casertanischer – er kommt aus der Gegend um Caserta nördlich von Neapel, und hat sich mit früheren Meisterwerken wie „Bella e perduta“ als ökologisch wie mythologisch hoch bewusster Regionalist erwiesen. Zugleich aber ist er inzwischen einer der Stars des europäischen Kinos, vor allem seit „Martin Eden“ (2019). Und so ist „Die Purpursegel“ nun vor allem eine französische Produktion, mit einer spannenden neuen Schauspielerin, Juliette Jouan, in der Hauptrolle. Wie kam Marcello auf Alexander Grin, einen Autor, der heute nur noch einem eingeweihten Lesepublikum geläufig ist? „Die Produktionsfirma hat mir das Buch vorgelegt, und ich habe sofort verstanden, dass das etwas für mich ist. Grin war ein Außenseiter, ein Pazifist, er hatte in der Sowjetunion viele Schwierigkeiten. Ich mochte den intimen Charakter dieser Novelle.“

Schon „Martin Eden“ war ja eine Literaturadaption, nach dem Roman von Jack London. Und in beiden Fällen huldigt Marcello dabei auch seiner Leidenschaft für das frühe Kino, für die Stummfilme, in denen es nicht so sehr um Geschichten geht, sondern um den Zauber des filmischen Materials.

„Die Purpursegel“ erhält die Höchstpunktzahl. Foto: Piffl Medien

„Die Purpursegel“ beginnt mit Aufnahmen aus Archiven, auf denen der Erste Weltkrieg zu Ende geht. Ein Mann namens Raphaël kommt also gleichsam aus einem Dokumentarfilm in einen Spielfilm, der Schauspieler Raphaël Thiery ist übrigens eine Wucht. Ein Schreiner, der sich auf Spielzeugschiffe verlegt, aber auch eine Galionsfigur für ein richtiges Schiff macht. Ein Witwer, der seine Frau nach einem skandalösen Vorfall verliert, und der nun umso stärker mit seiner Tochter verbunden ist. Zum Handwerk von Raphaël hat Marcello eine persönliche Beziehung, sein Großvater war ein bekannter Schreiner, „jemand wie Gepetto“, der „Vater“ von Pinocchio. Und die Sache mit den alten Filmaufnahmen, die Marcello immer wieder einstreut, erklärt er mit seiner unbändigen Leidenschaft für das Kino: „io sono un archivista“, ich bin vor allem ein Archivar, betont Marcello.

Er sammelt analoge Filme, und er gehört zu den Enthusiasten, die meinen, dass die Erfindung des Tonfilms Ende der 1920er Jahren dem Kino nicht unbedingt gut getan hat: „Was kam dabei heraus? Propagandafilme.“ Marcello spitzt dabei natürlich zu, aber es stimmt, der Tonfilm in Europa diente auch den faschistischen Regimen als Hilfsmittel. „Die natürliche Entwicklung führte nicht zum Tonfilm.“ Da würden sicher auch viele widersprechen, aber Marcellos Einstellung hat eine ehrwürdige Tradition. Er ist ein Verfechter eines puren, poetischen Kinos, das aber zugleich hochmodern und geschichtsbewusst ist.

Anarchistische Poesie

Bei „Die Purpursegel“ bestand die Herausforderung nun darin, einerseits den poetischen Charakter der Vorlage nicht zu verraten, dabei aber auch die schicksalhafte Romantik ein bisschen an ein modernes Verständnis von Liebe und Zuneigung anzupassen. Marcello erzählt dazu eine Geschichte, die viel über ihn erkennen lässt. „Ich muss sagen, dass meine erste Drehbuchfassung noch ziemlich unbedarft war.“ Er folgte darin der Logik des Buches, die ziemlich stark damaligen Vorstellungen von einem Märchenprinz folgte. Ein reicher junger Seemann kommt an die Küste eine Fantasielandes und findet dort das schutzbedürftige Mädchen. „Ich musste erst auf meine Schauspielerin hören, um zu verstehen, dass es nicht einfach darum gehen kann, dass ein Waisenkind einen Vater durch einen anderen Mann ersetzt.“ Und dann formuliert Marcello geradezu drastisch: „Ich war geschockt, wie dämlich meine erste Fassung war.“

„Die Purpursegel“ ist ein modernes Märchen. Foto: Piffl Medien

Tatsächlich war es so, dass Juliette Jouan sich stark in die Produktion des Films einbrachte. Die Debütantin, die davor eher Musik gemacht hatte, war bei einem Straßencasting eingeladen worden, hatte daraufhin ein „richtig schlechtes Video“ (Marcello) geschickt, irgendwie aber vermittelte sich doch etwas von ihrer Präsenz, und so spielt sie nun das Mädchen Assol, das im Film Juliette heißt – wie die Hauptdarstellerin, aber auch wie Marcellos eigene Tochter. Das Happy End, das sich im Buch schon ab dem zweiten Kapitel deutlich ankündigt, ist im Film viel offener. Marcello spricht von einem „chorischen Ende“, also von einem vielstimmigen im Gegensatz zu einem eindeutigen. Juliette ist auch nicht einfach das schutzbedürftige Mädchen, sondern findet in dem Betrieb ihres Vaters eine Aufgabe, und sie ist bald in einer Welt ganz gut aufgehoben, die im Film als „Hof der Wunder“ charakterisiert wird. Ein Reich der Frauen, auf das die Menschen im Dorf misstrauisch schauen.

„Die Purpursegel“: „Kein feministischer Film, aber ein weiblicher Film“

„Wir haben keinen feministischen Film gemacht, aber einen weiblichen Film“, so hebt Marcello den künstlerischen Beitrag hervor, den er von seiner Hauptdarstellerin bekam. „Ich habe einer jüngeren Generation zugehört.“ Juliette Jouan stieß dann auch noch auf das Buch, das einen weiteren zusätzlichen Aspekt in „Die Purpursegel“ ausmacht: Gedichte von der französischen Anarchistin Louise Michel (1830–1905). Am Drehort in der französischen Picardie fand sich das Buch buchstäblich „im Müll“ in einem Schuppen. Der Film wird dadurch deutlich politischer, und schließt auch damit wieder an „Martin Eden“ an, der ja ein Porträt eines jungen Mannes in den gefährlichen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg zeichnete.

Der „intime“ neue Film von Pietro Marcello ist auch Ausdruck einer Liebe zum Kino, wie man sie heute nicht mehr so oft findet. Immer wieder flicht der Regisseur im Gespräch die Namen von Vorbildern ein. Fast einen kleinen Vortrag hält er über die ukrainische Regisseurin Larissa Shepitko, geboren 1938 im heutigen Bachmut, inzwischen zerstört durch die russischen Invasoren. Sie ist für Marcello die größte Vertreterin eines „Kinos der Frauen“. Aber auch Michail Romm („Der gewöhnliche Faschismus“) ist ihm sehr wichtig, und dann fällt ihm noch ein deutscher Titel ein: „Der größte Film aus Deutschland, nein, vielleicht einer der größten Filme überhaupt, ist ,Neapolitanische Geschwister‘ von Werner Schroeter.“

Das ist ein sehr spannender Hinweis, denn Schroeter steht für einen Übergang vom einem klassischen Neorealismus mit plastischen Milieuschilderungen zu einem künstlerisch eigensinnigen Kino. Pietro Marcello hat sich mit der Müllmafia in Süditalien ebenso beschäftigt wie mit den Büffeln, denen sich der berühmte Mozzarella verdankt. Die Büffel hat er nun in der Picardie wiedergefunden, auch das war ein gutes Zeichen. „Die Purpursegel“ ist nach „Martin Eden“ ein weiterer Höhepunkt in seiner Karriere. Von diesem Begriff will er allerdings nicht wissen. „Wenn das Kino eine Karriere wäre, würde ich mich schämen. Es ist eine Berufung.“

  • L’envol F/D 2022; 100 Min.; R: Pietro Marcello; D: Juliette Jouan, Raphaël Thiery, Louis Garrel, Noémie Lvovsky; Kinostart: 6.7.  33333

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