Interview

„Die Theorie von Allem“ von Timm Kröger feiert das klassische Kino

Regisseur Timm Kröger traut sich was: „Die Theorie von Allem“ ist ein Multiversum-Thriller in den Schweizer Bergen, der das klassische Kino feiert. Es geht um eine Gruppe von Wissenschaftlern in den 1960er-Jahren, die bei einem Kongress auf die Ankunft eines bahnbrechenden iranischen Quantenphysikers wartet – während zunehmend mysteriöse Dinge geschehen. „Ein Film, der nicht wie ein Traum ist, ist kein Film“, erzählt Regisseur Timm Kröger im Interview mit tipBerlin-Kritiker Bert Rebhandl.

„Die Theorie von Allem“-Regisseur Timm Kröger bei der Weltpremiere des Films in Venedig. Foto: Imago/Future Image

„Die Theorie von Allem“ war zuerst „eine Erich Kästner-Idee von skifahrenden Physikern“

tipBerlin Herr Kröger, wie entstand die Idee zu „Die Theorie von Allem“? Ein junger Mann, der vielleicht eine Weltformel gefunden hat, nimmt in der Schweiz an einem Kongress teil, allerlei Merkwürdiges trägt sich zu.

Timm Kröger Die erste Idee kam innerhalb weniger Sekunden. Es fühlte sich an wie eine Eingebung, so eine Erich Kästner-Idee von skifahrenden Physikern, die ich vor Augen hatte, ein Schwarzweißfilm, ganz klar, und der sollte „Die Theorie von Allem“ heißen. Das war der Anfang. Worum es genauer gehen sollte, außer 60er Jahre in der Schweiz, war mir damals noch überhaupt nicht klar. Mein Drehbuchautor Roderick Warich hat dann den größten Teil des Plots gefunden, und auch die metaphysischen Elemente in meinem Sinne eingebracht. Es geht in „Die Theorie von Allem“ ja um Parallelwelten in einem europäischen Drama, wo man derlei vielleicht nicht erwartet. Heute umgibt uns diese Idee, das Multiversum ist jetzt beinahe jedem geläufig, nicht nur durch das Marvel-Universum. Wir haben recht lange an dem Drehbuch geschrieben. Es könnte vielleicht wirken, als wäre unser Ansatz nicht mehr so originell wie vor sieben Jahren. Aber unser Ansatz ist doch ein eigener.

Dass das Seting von „Die Theorie von Allem“ an Hitchcock erinnert, ist nicht unbeabsichtigt. Foto: Neue Visionen

tipBerlin „Everything Everywhere All at Once“ hat das Multiversum noch einmal populärer gemacht. Gab es Befürchtungen, dem Film könnte die Zeit davonlaufen?

Timm Kröger Ich habe das Gefühl, der Zeitpunkt jetzt passt hervorragend. Gerade noch läuft „Oppenheimer“ in den Kinos. Viele Leute hören da wieder von Kernphysik oder Quantenphysik, und den entsprechenden Gestalten dahinter, und ich glaube, es ist nicht schlecht, von so einem populären Film flankiert zu werden. Und das Sentiment, dass Schwarzweißfilme anstrengend sind, darüber sind wir größtenteils hinweg. Ich hab auch das Gefühl, es gibt eine Offenheit für einen gewissen Retrocharme, den der Film versprüht. Ich wollte kein cinephiles Ratespiel machen oder reine Videotheksnostalgie, aber ein Gefühl von Erinnerung an Kino war wichtig, und ein Gefühl davon, wie wir uns überhaupt erinnern. Denn die echte Vergangenheit erinnern wir nicht.

Der Film ist fast noch altertümlicher als sein Setting, die Musik und die Bilder, der Erzählstil ist oft eher den 40er und 50er Jahren entlehnt. Den genauen Grund dafür kenne ich gar nicht, aber es fühlte sich richtig an, auf die Art eine Hitchcock-Halluzination oder einen dunklen Traum zu betreten. Jeder Film ist wie ein Traum. Ein Film, der nicht wie ein Traum ist, ist kein Film. 

„Man kann einem modernen Publikum schon etwas zumuten“

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tipBerlin In „Die Theorie von Allem“ wird auch viel geträumt.

Timm Kröger Es gibt eine Szene ungefähr in der Mitte, die tonal herausfällt, die erwachsener, ernster wirkt als vieles im Film. In der Dachkammer kommt es zum Zusammentreffen von Johannes und der weiblichen Hauptfigur Karin. Sie erzählt ihm einen Traum, von dem sie glaubt, dass er ihn gerade hatte. Dieser Traum weicht aber in einem markanten Detail völlig ab. Von dieser Erzählung eines irgendwie falsch abgebogenen Traums kann man Wellen ziehen zum Rest der Geschichte.

Die Hauptdarsteller in „Die Theorie von Allem“ (hier: Jan Bülow und Olivia Ross) sind Timm Kröger „alle ganz lieb“. Foto: Neue Visionen

tipBerlin Hatten Sie irgendwo einen Punkt, wo die Befürchtung wuchs, der Film könnte zu steil werden? Zu gewagt? Oder wird das durch Philosophie aufgewogen?

Timm Kröger Ich glaube, man kann einem modernen Publikum schon etwas zumuten. Wir leben jetzt in einer anderen Zeit. Der Begriff Multiversum provoziert Assoziationen zu so vielen anderen Filmen und Geschichten, mit denen wir bereits vertraut sind. Und der Gedanke von alternativen Lebensverläufen hat mit Physik erst einmal nichts zu tun, ist aber universell. Viele Menschen neigen dazu, ihr Leben zumindest im Rückblick als ihr Schicksal einzuordnen, als hätte es gar nicht anders kommen können. Die Vorstellung einer milliardenfachen Verästelung der Realität bedeutet aber ja eigentlich, dass es nicht den einen, wahren Weg geben kann. Das eröffnet einen Abgrund für die menschliche Existenz, für die Art, wie wir unser eigenes Leben verstehen wollen.

Die Feder am Anfang von „Forrest Gump“, die am Ende wieder davonfliegt, ist so ein berühmtes Zeichen, eine sehr amerikanische Idee, dem Leben, das wir zu kennen glauben, stark zu vertrauen und in jeder arbiträren Wendung einen durchgehenden, tieferen Sinn zu erkennen. Die reale Möglichkeit, dass wir vielleicht in einem chaotischen und indifferenten Universum leben, wird davongespült. Ich wollte einen Film machen, der beide Möglichkeiten offen lässt.

„Die Theorie von Allem“-Regisseur Timm Kröger: „Es geht um kulturelle und auch deutsche Geister“

tipBerlin Karin ist Jüdin. Warum war das wichtig?

Timm Kröger Es geht in „Die Theorie von Allem“ implizit, also nie besonders hervorgehoben, um kulturelle Geister und auch deutsche Geister. In meinem letzten Film „Zerrumpelt Herz“, der spielte 1929, ging es um Protofaschismus im deutschen Wald, das traf dort auf Naturmystik und spätromantische Musik. Hier geht es im Nebenraum um Nachwirkungen der, wie man so plakativ sagt, dunkelsten Zeit. Für einen Film, der in den 60er-Jahren und mit dem Archetypus vom Zauberberg spielt, muss der jüdische Exodus als eine zivilisatorische und kulturelle Katastrophe eine Rolle spielen, und unsere Figur Karin – so schemenhaft sie im Film zuweilen erscheint – steht vielleicht für viele, die verloren gegangen sind.  

„Die Theorie von Allem“ ist ein Film noir in klassischem Schwarzweiß. Foto: Neue Visionen

tipBerlin Ein hübsches Detail betrifft die Mondlandung. Da haben Sie eine Pointe eingebaut.

Timm Kröger Wir mochten das schon bei Christian Kracht, in seinem Buch „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“. Da gab es, irgendwo in der Vergangenheit, wir wissen zunächst gar nicht genau wo, eine kleine historische Verschiebung, die dazu führt, dass die Schweiz zu einem kommunistischen Staat geworden ist und im Zentrum eines neuen Weltkriegs steht. Wenn man schon mit Parallelwelten spielt, und mit Figuren, die schon einmal tot waren, dann doch wieder leben, wie das in unserem Film passiert, ist es natürlich auch möglich, dass es Abweichungen globaler Natur gibt. Das haben wir an einer Stelle beiläufig deutlich gemacht.

„Wir kennen alle nicht die richtige Antwort“

tipBerlin Wenn Pedanten den Film bis ins Detail auseinandernehmen wollen – gibt es Schwachstellen?

Timm Kröger Es gibt eine klare Hintergrundgeschichte und auch ein simples Diagramm für die Aufteilung der Welten, die wir im Film betreten oder von denen wir zumindest erfahren. Das will ich aber gar nicht verraten. Der Film lässt sich decodieren, man versteht ihn beim zweiten Mal wahrscheinlich um Einiges besser. Es ging mir aber immer um einen Film, der Fragen auftürmt, der auf einen unter Wasser liegenden Eisberg von Fragen verweist. Was passiert denn da wirklich bei dieser Verschwörung unter dem Berg? Ich finde es besonders spannend, was während des Films bei den Menschen im Kopf entsteht, und wie die Wellenfunktion der eigenen Antworten sozusagen immer wieder kollabiert in dem Moment, in dem man so etwas wie eine Antwort bekommt.

Ich denke, dass „Die Theorie von Allem“ von einer Paranoia handelt, die wir aus dem Film Noir, aber auch dem SciFi-Genre ganz gut kennen, und die sich mit Echos aus unserer Kultur verbindet. Auch den Topos des Doppelgängers kennen wir aus Science-Fiction-Geschichten. Im Showdown werden die Doppelgänger zumeist mit einer Frage konfrontiert, auf die nur der «Echte» der beiden die richtige Antwort wissen kann. Hier haben wir es aber mit einer Hauptfigur zu tun, die auf merkwürdigste Art und Weise erfährt, dass sie vielleicht selbst ihr eigener, falscher Doppelgänger ist. Entspricht das nicht einer fundamentalen Erfahrung? Wir kennen alle nicht die richtige Antwort, die richtige Art, unser Leben zu leben. 

Regisseur Timm Kröger war zu Beginn nicht klar, „worum es genauer gehen sollte, außer 60er Jahre in der Schweiz“. Foto: Neue Visionen

tipBerlin Wie kamen Sie auf Ihre Hauptdarsteller?

Timm Kröger Die sind mir alle ganz lieb. Hanns Zischler hatte ich halb gecastet, nachdem ich „Auge in Auge“ gesehen habe, die deutsche Kinogeschichte von Michael Althen und Hans Helmut Prinzler. Außer in Spielbergs „München“ hatte ich ihn sonst noch nicht so richtig wahrgenommen. Die Figuren sind ja alle so ein bisschen wie in Tim und Struppi, also Comictypen, mit sehr einfachen Strichen gezeichnet – aber alle werden sie von Menschen mit ihren ganz eigenen Brüchen und Komplexitäten gespielt.

David Bennent zum Beispiel, der hier einen von zwei merkwürdig komplementären Schweizer Kommissaren spielt. Den ganz fantastischen und leider eher unbekannten Österreicher Gottfried Breitfuss mochte ich, weil er so eine bestimmte Wärme, und doch etwas Gebrochenes in den Film bringt, auch eine bekloppte Reminiszenz an Heinz Erhardt, an diesen verschwitzten Nachkriegsgestus und aber auch etwas weit Früheres.

Und Jan Bülow war für diesen verwirrten und unbesetzten Heldenreisenden fantastisch, auch wenn er hier eine völlig andere Person spielt, als er selber ist. Ein introvertierter Möchtegern-Physiker mit Genieverdacht gegen sich selbst. Jan beherrscht auch diesen steinernen Film-Noir-Blick, den wir vielleicht auch schon aus dem Kino der Weimarer Zeit kennen. Und unsere Hauptdarstellerin Olivia Ross kam über Ulrike Müller, die das gesamte Casting geleitet hat und bei mir mit unserem Ensemblecast für eine ganze Menge Überraschungen gesorgt hat. 

tipBerlin Woher kommt Ihre Begeisterung für Film?

Timm Kröger: „Ich habe diese eigenartige Trennung zwischen Kunst und Unterhaltungsfilm nie akzeptiert“

Timm Kröger Ich bewundere Leute wie Scorsese, die irrsinnig viele Filme gesehen und eine Art enzyklopädisch-emotionale Landkarte des Kinos erstellt haben. Ich könnte da gar nicht mithalten. Roderick zum Beispiel hat auch dreimal mehr Filme gesehen als ich. Und manches von dem, was als Referenz in unserem Film steckt oder gesehen wird, haben wir beide nie gesehen. Das halte ich aber für ein gutes Zeichen. Als Filmemacher lebt man in diesem Medium, und ich habe viele Filme gesehen, die ich in ihrer Tiefenwirkung auf gewisse Weise für realer halte als diese sogenannte Realität. Das ist auch der Grund, warum man selbst Filme machen möchte. 

tipBerlin Gab es nicht doch konkrete Punkte, an denen die Begeisterung entstand?

Timm Kröger Ich komme vom Land, aus Norddeutschland. Der einzige echte Zugang zur Filmkunst war mein toller Englischlehrer, der hat uns eine ganze Reihe großer Filme gezeigt, sogar ein bisschen Filmtheorie betrieben und mir eine ganze Welt eröffnet. In den 1990er-Jahren, als ich ein Teenager war, hat auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen in einem bedeutenderen Maß als heute Kinokultur vermittelt. Da bin ich so reingekippt. Da wird man dann zum Beispiel Kubrick-Fan. Später ging ich ans European Film College in Dänemark, eine Art Hogwarts für Filmemacher, wo ich zum ersten Mal mit Gleichgesinnten in Berührung kam. Aber meine Begeisterung für Kubrick oder auch für Lynch hat sich immer auch mit dem vermischt, was ich als Kind schon gesehen habe, mit allem, wofür zum Beispiel John Williams jemals Musik komponiert hat. Auf eine Art habe ich auch diese eigenartige Trennung zwischen Kunst und Unterhaltungsfilm nie akzeptiert. Ich glaube, das sieht man unserem Film auch an.

tipBerlin Sie leben seit 2015 in Berlin und sind Mitglied einer Filmgruppe, zu der auch Sandra Wollner gehört (die mit „The Trouble with Being Born einen der besten Filme des Jahres 2021 gemacht hat). Was macht „Funeral Casino“ aus?

Timm Kröger Wir haben uns alle in Ludwigsburg kennengelernt, über die Jahrgänge verteilt, und haben die Gruppe Funeral Casino genannt. Denn wir machen alle irgendwie Filme über Geister. Sandra macht fantastische Filme, die auch formal neues Terrain betreten; Filme, auf die ich nie kommen würde. Sie war bei diesem Film auch immer an meiner Seite, weil ich ihren Blick auf die Dinge wollte. Ich bin eher dieser Vergangenheitsforscher, zumindest aktuell. Roderick dreht gerade seinen zweiten Spielfilm in Thailand. Schon sein letzter, 2557, wurde dort gedreht und war eine regelrechte Totenmeditation in Michael-Mann-Farben. Alle unsere Filme kreisen auf ihre eigene Art um diese Frage, ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Für uns ist Kino immer auch eine Beschäftigung mit unbeantwortbaren Fragen.

  • Die Theorie von Allem Deutschland 2023; 118 Min.; R: Timm Kröger; D: Jan Bülow, Gottfried Breitfuss, Hanns Zischler, Olivia Ross; Kinostart: 26.10.

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