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„Tótem“ von Lila Avilés beschwört ein Gemeinschaftsgefühl

„Tótem“ ist der zweite Spielfilm von Lila Avilés und feierte schon auf der Berlinale Premiere. Die mexikanische Regisseurin stellt in diesem authentischen Familienporträt ganz unverkrampft die Frage, wie wir mit dem Tod umgehen. tipBerlin-Kritikerin Paula Schöber hat mit ihr über die zwischenmenschlichen Beziehungen gesprochen, die in „Tótem“ im Mittelpunkt stehen.

„Tótem“ geht der Frage nach, wie wir mit dem Tod umgehen: Die siebenjährige Sol (Naíma Sentíes) weiß, dass ihr Vater bald sterben wird. Foto: Piffl Medien

„Tótem“ begleitet über einen Tag hinweg ein siebenjähriges Mädchen

Schon in einer der ersten Szenen von Lila Avilés’ berührendem Familienporträt „Tótem“ spricht die siebenjährige Sol aus, was sich über den Film hinweg alle wünschen: „Mein Wunsch ist, dass Papa nicht stirbt.“ Ihre Mutter weiß darauf keine Antwort, zu klar ist die Tatsache, dass dieser Wunsch wohl kaum in Erfüllung gehen wird. Die beiden sind mit bunten Luftballons im Gepäck auf dem Weg zum Elternhaus von Sols Vater Tona. Dort versammeln sich im Laufe des Tages immer mehr Familienmitglieder, um die große Geburtstagsfeier für den todkranken Tona vorzubereiten. Auch der junge Künstler braucht den ganzen Tag, um fit genug für einen kurzen Moment am Abend zu werden. Er ist so geschwächt, dass nicht einmal Sol zu ihm darf; er will seiner kleinen Tochter die Gewissheit darüber ersparen, wie schlecht es ihm wirklich geht.

„Tótem“ von Lila Avilés zeigt nicht nur die Perspektive von Sol: alle Familienmitglieder haben ihre eigenen Probleme. Foto: Piffl Medien

Also muss Sol den Tag alleine zwischen etwas sonderlichen Tanten, streitenden Cousins und einem genervten Großvater verbringen. Doch niemand scheint so richtig Zeit für die Siebenjährige mit den großen, wachen Augen zu haben; zu viele Dinge müssen noch erledigt werden, alltägliche ebenso wie Vorbereitungen für die große Feier. 

„Tótem“-Regisseurin Lila Avilés: „Dieser Film ist ein Film, der von seinen Figuren lebt“

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Sol wirkt in diesem kontrollierten Chaos ein wenig verloren und zieht sich oft in ihre eigene Welt zurück, versteckt sich im Gartenhäuschen, streift durch den üppigen, fast dschungelartigen Garten. Naíma Sentíes, während der Dreharbeiten selbst erst achtjährig, spielt diese aufmerksam beobachtende, kluge und sensible Sol so ausdrucksstark und gleichzeitig so zart, dass man ganz bei ihr ist. Auf das Casting für „Tótem“ legte Lila Avilés bei ihrem zweiten Spielfilm besonders viel Wert: „Dieser Film ist ein Film, der von seinen Figuren lebt. Ich wusste, wenn wir einen super Cast haben, haben wir auch einen super Film, wenn nicht, haben wir keinen Film.“ Gut, dass Avilés so viele gute Darsteller wie Naíma Sentíes gefunden hat.

In den chaotischen Vorbereitungen zu Tonas Geburtstagsfeier hat niemand so richtig Zeit für die kleine Sol, nicht einmal ihre gleichaltrige Cousine. Foto: Piffl Medien

Sol ist zwar so etwas wie die Protagonistin dieses erweiterten Kammerspiels, doch zeigt „Totém“ nicht unbedingt ihre Perspektive auf das Geschehen. Vielmehr lässt einen die Kamera von Diego Tenorio überall ein bisschen teilhaben; mal zeigt sie die überforderte Tante Nuri, die in all dem Stress zwischen Kuchen-Verzierung und Kinderbetreuung ein bisschen zu oft zum Alkohol greift. Dann wieder den Großvater bei der liebevollen Pflege des Bonsais, den er seinem todkranken Sohn später überreichen will, oder die Cousins, die sich ums Putzen drücken. Diese einfach beobachtende Kamera löst damit die vierte (Lein-)Wand auf und gibt dem Zuschauer das Gefühl, selbst bei den geschäftigen Vorbereitungen dabei zu sein. Avilés’ sehr sparsamer Einsatz von Musik verstärkt diesen beinahe schon dokumentarischen Effekt, beabsichtigt ist er aber nicht unbedingt. Die Mexikanerin, die schon in ihrem ersten Spielfilm „The Chambermaid“ Musik nur sehr zurückhaltend einsetzte, mag einfach keine Musik im Film.

Lila Avilés schenkt der Natur in „Tótem“ viel Aufmerksamkeit

Lila Avilés, die wie Sols Mutter Lucía selbst jung Mutter geworden ist, hat „Tótem“ auch ein bisschen für ihre Tochter gemacht. Mit dem Film will sie die Beziehungen zwischen uns Menschen untereinander, aber auch mit unserer Umwelt, der Natur wieder sichtbarer machen: „Wir vergessen oft, zurückzukehren zu diesen Verbindungen zur Welt, zur Natur. So hippie wie das klingt, so einfach ist es“, sagt sie im Gespräch mit tipBerlin.

So überrascht es auch nicht, dass Avilés der Natur in „Tótem“ recht viel Aufmerksamkeit schenkt: Nicht nur im Dschungel-Garten zeigt sie immer wieder verschiedene Tiere, die irgendwie auch Teil des bunten Treibens sind. Eine Krähe, die wie ein böses Omen den Großvater aufschreckt. Eine Gottesanbeterin, die grazil auf einer Zimmerpflanze sitzt, oder Schnecken, die die tiervernarrte Sol im Haus verteilt. Vielleicht muss man die vielen Tiere, in deren Gesellschaft Sol ist, auch als Allegorie auf die Menschen sehen, die uns umgeben. So erklärt Lila Avilés: „Wir sind soziale Tiere, wir brauchen andere Menschen. Wir leben so in unserer individuellen Welt, dass wir manchmal die anderen vergessen.“

Dieses Gemeinschaftsgefühl beschwört Avilés besonders gut in „Totém“, wo alle zusammenkommen, um ihre Liebe für einen Todgeweihten zum Ausdruck zu bringen. Dabei ist der Film weder tieftraurig noch allzu hoffnungsvoll oder gar gut gelaunt, sondern eben einfach so, wie das Leben ist.

  • Tótem Mexiko/Dänemark/Frankreich 2023; 95 Min.; R: Lila Avilés; D: Naíma Sentíes, Montserrat Marañon, Marisol Gasé; Kinostart: 9.11.

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