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Filmkritik

„Anatomie eines Falls“: Individualität statt Wahrheit

„Anatomie eines Falls“ von Justine Triet ist ein klassisches Gerichtsdrama, in Cannes gab es dafür dieses Jahr die Goldene Palme. tipBerlin-Kritiker Bert Rebhandl ist vor allem von Hauptdarstellerin Sandra Hüller begeistert, die in Triets Ensemble-Film ihre volle schauspielerische Bandbreite zeigen kann.

Sandra Hüller glänzt in „Anatomie eines Falls“ neben Swann Arlaud in einem spannend zusammengesetzten Ensemble. Foto: LesFilmsPelleas/Carole Bethuel

„Anatomie eines Falls“: Eine Blutspur im Schnee und viele Fragen

Sandra Voyter ist eine erfolgreiche Schriftstellerin. Sie ist mit ihrem Mann Samuel und dem gemeinsamen elfjährigen Sohn Daniel in die Alpen gefahren, hier hat Samuel ein Haus, um das er sich kümmern will. Eine Studentin aus Grenoble nutzt die Gelegenheit und kommt zu einem Interview mit Sandra vorbei. Doch daraus wird nichts, denn aus dem Obergeschoss ertönt unerträglich laute Musik. Was will Samuel damit zum Ausdruck bringen? Wenig später liegt er tot vor dem Haus, im Schnee fällt eine Blutspur nur um so deutlicher ins Auge.

Die französische Regisseurin Justine Triet widmet sich in „Anatomie eines Falls“ in allen Facetten diesem Fall (im Deutschen hat der Titel einen Doppelsinn, im Französischen nicht): Sandra muss sich vor Gericht verantworten, denn es ist unklar, ob und wie Samuel wirklich aus dem Fenster gestürzt ist. Vielleicht war es Selbstmord, vielleicht hat Sandra ihn gestoßen?

Justine Triets „Anatomie eines Falls“ ist ein klassisches Gerichtsdrama, das die großen Fragen nach Wahrheit und Erfindung verhandelt. Foto: LesFilmsPelleas/LesFilmsDePierre

„Anatomie eines Falls“ hält sich an die Logik eines juristischen Verfahrens

Das wird schließlich vor Geschworenen und mit Staatsanwalt und Verteidiger ausführlich verhandelt. Rückblenden auf die Ehe von Sandra und Samuel bringen immer neue Aufschlüsse. Zwei kreative Menschen, die aber ganz unterschiedlich waren. Dazu kommt, dass ihr Sohn Daniel nach einem Unfall fast blind ist. Samuel war damals unachtsam gewesen. Schritt für Schritt dringt Justine Triet mit „Anatomie eines Falls“ in die Geheimnisse dieser Beziehung vor, sie hält sich dabei an die Logik eines juristischen Verfahrens, das nicht notwendig der Wahrheit auf den Grund kommt, sondern schließlich auf Grundlage vieler Aussagen, Gutachten und Beweisstücke eine Entscheidung treffen muss.

Sandra Hüller kann in „Anatomie eines Falls“ ihr ganzes Talent zur Vieldeutigkeit ausspielen. Sie ist der Mittelpunkt eines spannend zusammengesetzten Ensembles, aus dem auch noch Milo Machado Graner herausragt, der sehr emotional den Sohn spielt. Justine Triet verhandelt die großen Fragen des künstlerischen Schaffens: Was ist Wahrheit? Was ist Erfindung? Sie schiebt verschiedene Ebenen ineinander (das Schreiben von Sandra und ihre Rolle vor Gericht, das Drama von Samuel und das von Daniel), und sie setzt auch filmisch immer wieder auf Vielschichtigkeit: Vergangenheit und Gegenwart werden auf komplexe Weise verknüpft. Das Kino verfügt über die Bilder, in der Regel gilt ein Bild als Beweis. In „Anatomie eines Falls“ aber gibt es nur eine Wahrheit: die abgründige Individualität, die großes Schauspiel erschließt.

  • Anatomie d’une chute Frankreich 2023; 150 Min.; R: Justine Triet; D: Sandra Hüller, Swann Arlaud, Milo Machado Graner; Kinostart: 2.11. 

Der großartigen Schauspielerin haben wir die Novemberausgabe des gedruckten tipBerlin gewidmet. Ein langes Interview mit Sandra Hüller lest ihr hier. Ebenfalls hochgelobt ist ihre Rolle in „The Zone of Interest“ – zur Filmkritik.


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