Das Berlin der Zukunft, wie es nach dem Wahlprogramm der Grünen aussehen könnte: „Grünes Licht für Morgen“ fordern sie in ihrem Wahlprogramm und wollen in Zukunft alles noch besser machen als bisher. Das führt nicht nur zu Windrädern auf Dächern in einer klimagerechten und bezahlbaren Stadt, sondern eben auch zu geräderten Menschen: Zwischen Calisthenics und Durchdemokratisierung macht sich ein ungekannter Erschöpfungszustand im Berlin der Grünen breit. Wir stellen uns eine Stadt vor, die von der Partei mit absoluter Mehrheit regiert wird.
Wahlprogramm der Grünen: Berlin wird klimaneutral
Vor uns die Sintflut! Im Angesicht drohender Klimakatastrophen führt die Bürgermeisterin Bettina Jarasch in flottem Tempo Berlin auf dem 1,5 Grad-Pfad zur klimaneutralen Stadt. Erwartete Ankunft: 2035.
Das bedeutet: Vollgas bei der Verkehrswende – aber bitte ohne Diesel und Benzin! Selbst das E-Auto wird mehr geduldet als geliebt, Energie- und Platzfresser sind die Vehikel nämlich trotzdem. Wer nicht beruflich auf einen PKW angewiesen ist, hat keine Ausreden mehr: E-Busse, U-und S-Bahnen fahren in dicht besiedelten Gebieten auch außerhalb des S-Bahnrings im Fünfminutentakt. Ein großes Straßenbahnnetz spannt sich vom Osten her bis zum Potsdamer Platz und zur Sonnenallee – Anbindung Spandau folgt demnächst.
In den vielen autofreien Kiezen spielen Kinder auf der Straße, Erwachsene trainieren in Calisthenics-Anlagen oder jäten Unkraut im Gemeinschaftsgarten. Verkehrsberuhigte Einkaufsstraßen mit Regenwasserbeeten, Tempo-30-Regelungen auf zahlreichen Hauptstraßen mit fußgänger:innenfreundlichen Ampelschaltungen, und in insektenfreundliche Wildblumenwiesen umgewandelte Parkplätze haben der autogerechten Stadt den letzten Todesstoß verpasst.
Kehrseite der Verkehrswende: Autowerkstatt-Arbeitslosigkeit
Und damit auch nicht wenigen Existenzen. Alteingesessene Kiez-KfZ-Werkstätten mussten schließen, weil weniger Autos und dann noch die wartungsarmen E-Autos das Geschäftsmodell ruinieren. Wegen der langwierigen wie teuren Hochvolt-Qualifikationen werfen ältere Schrauber:innen reihenweise das Handtuch – finanziell und psychisch geknickt landen sie auf dem gesellschaftlichen Abstellgleis. Auch Handwerksbetriebe sehen schon den Bankrott auf sich zukommen, wenn sie demnächst ihre bisher noch gut in Schuss gehaltenen Fahrzeugflotten durch neue E-Vehikel ersetzen müssen.
Dagegen haben sich PS-Poser überraschend gut arrangiert und protzen statt mit Sportwagen und SUVs nun mit edlen Karbon-Rennrädern und Mountainbikes auf den neu errichteten Radschnellwegen. Allerdings sorgen illegale E-Bike-Rennen auf dem zur Fahrradstraße umgewandelten Ku’damm immer wieder für Schlagzeilen – das hat selbst die vergrößerte Polizei-Fahrradstaffel noch nicht unter Kontrolle bekommen.
Bettina Jarasch, Spitzname „Shoppingqueen“
Im Grünen Rathaus (Jarasch hat als erste Amtshandlung Außenfassade und Dächer des Gebäudes mit Sedum und Kletterpflanzen überziehen lassen) ist man bemüht, die jahrzehntelang kaputtgesparte Stadt durch großzügige Finanzspritzen wieder aufzupäppeln. Auch wenn sich die Bürgermeisterin von der Opposition den Spitznamen „Shoppingqueen“ gefallen lassen muss und sich eine neue Berliner Jugendbewegung formiert hat, die als „Finance for Future“ eine maßvolle Haushaltsplanung fordert („Ihr hinterlasst uns einen Schuldenberg!“), hält Jarasch an ihrer Ankaufspolitik fest. Das Land erwirbt reihenweise Immobilien in zentralen Kiezlagen für Wohnen, Gewerbe und Kultur, Flächen für sozial-ökologische Modellquartiere und biodiverse Naturanlagen.
So ist, ergänzt um den Einsatz der wohnungspolitischen Powertools wie Mietenschutzschirm, Vorkaufsrecht und dem jährlichen (diesmal aber wirklich!) Neubau von 20.000 Wohnungen das Wunder von Berlin gelungen: 50 Prozent gemeinwohlorientiertes Wohnen mit der typischen Berliner Mischung. Sogar Fledermäuse und Nachtigallen finden mitten in der Stadt attraktiven Lebensraum. Allein die vielen kleinen Windräder auf den Dächern werden ihnen zuweilen zum tödlichen Verhängnis. Ein Dilemma, das auch die zusätzlichen Stadt-Ranger:innen nicht lösen können.
Bundesweit Neid auf das Berlin der Grünen
Nicht nur wegen der progressiven Verkehrs- und Wohnungspolitik blicken andere deutsche Städte voller Bewunderung – und wie immer auch etwas Neid – auf das Innovationszentrum Berlin. In der Internetwüste Bundesrepublik floriert die „Glasfaser-Hauptstadt“ als Oase mit ihren schnellen Datenströmen und kostenlosem W-LAN in Bus und Bahn sowie öffentlichen Einrichtungen. Der coronabedingte Digitalisierungsschub wird weiter befeuert. Wohnung anmelden? Perso beantragen? Was einst Monate im Voraus geplant werden musste, lässt sich nun im digitalen Bürger:innenamt schnell und komfortabel online erledigen.
Überhaupt zählt die Verwaltung zu den beliebtesten Arbeitgeber:innen der Stadt. Aus öden Großraumbüros sind kreative Co-Working-Spaces geworden, und anders als noch in vielen Unternehmen gehört mobiles Arbeiten dort zum Standard. Weshalb in den hippen Cafés viele junge Verwaltungsangestellte neben Kreativschaffenden und Projektmanager:innen vor ihren Laptops sitzen. Dank Sprachkursen, Anti-Rassismus- und Diskriminierungs-Schulungen, queer-feministisch ausgelegter Parität, sowie der Einführung einer Zielquote für Schwarze Menschen, People of Color und Migrationshintergrund im öffentlichen Dienst gelten die Behörden als Musterbeispiele für Weltoffenheit und Diversität.
Bürger:in sein verpflichtet
Seitdem Berliner:innen alle Hände voll zu tun haben mit der Zukunft, hat sich ihr Freizeitverhalten drastisch verändert. Wegen der Durchdemokratisierung vom Senat bis in den Nachbarschaftstreff finden wöchentlich Bürger:innenentscheide und Anwohner:innenversammlungen statt. Wer nicht gerade am runden Kieztisch sitzt, bereitet sich zuhause durch das Studium der seitenlangen Maßnahmekataloge oder veröffentlichten Haushaltspläne des Senats auf die nächste Sitzung im neu eingeführten Bürger:innenrat vor. Dann ist da noch der Workshop zum nachhaltigen Bienenzüchten auf dem eigenen Balkon im Klimahaus und der nachbarschaftliche Dekolonisierungs-Spaziergang vom Schwarzen-Community-Zentrum! Ärzt:innen in den lokalen Gesundheitszentren berichten von immer mehr gestressten Patientinnen und einem Demokratie-Erschöpfungs-Syndrom. Die Grünen haben 2021 viel versprochen, nur nicht, dass das Leben in der besten aller möglichen Städte leichter wird.
Das Wahlprogramm der Berliner Grünen könnt ihr hier nachlesen.
Bettina Jarasch, Grünen-Spitzenkandidatin, im Kurz-Check
Mein politisches Vorbild Christa Nickels, Grüne und die erste Krankenschwester im Bundestag.
Das sage ich morgens meinem Spiegelbild Klar geht das!
Beste:r Berliner Bürgermeister:in bisher Willy Brandt. Ein Sozialdemokrat mit Visionen.
Mein liebster Berliner Kiez Ist wie mit dem Lieblingsessen, alles eine Frage der Stimmung.
Regt mich in Berlin an Dieses Gefühl, dass einfach alles geht.
Regt mich in Berlin auf Ständige Schuldzuweisungen statt gemeinsam anpacken.
Darin war ich nie gut in der Schule Handschrift.
Dieses Berliner Gebäude kann weg Autobahnbrücke über dem Breitenbachplatz.
Das mache ich nie wieder Eine Abschlussarbeit schreiben, schlimme Quälerei.
Dort stürze ich nachts am liebsten ab Ich stürze maximal vom Rad.
Meine erste Amtshandlung als Regierende:r Verhandlungsrunde zum Mietenschutzschirm einberufen.
So soll man sich an mich als Regierende:r erinnern Die richtige Frau für die Aufgabe ihrer Zeit.
Was die anderen Parteien wollen
- Wahlprogramm der CDU in Berlin: Polizeistaat mit Einsamkeitsbeauftragtem
- Wahlprogramm der Berliner SPD: Bau schlau!
- Wahlprogramm der FDP: Bullshit-Bingo-Boom
- Wahlprogramm der Berliner Linken: Havanna für alle
- Wahlprogramm der Berliner AfD: Neue Deutsche Härte
Mehr Politik in Berlin
So schräg machen die Parteien Werbung: 12 lustige Wahlplakate in Berlin. „Danke, ich hab schon“: Unser Autor hat keine Lust, von Promis Parteiwerbung zu erhalten. „Mit etwas Glück knacken wir die Fünf-Prozent-Hürde!“: Wir führten auch mit Martin Sonneborn (Die PARTEI) ein Interview. Neue Texte findet ihr immer aktuell in unserer Politik-Rubrik.