Interview

Viniculture in Charlottenburg: Berlins nüchternster Weinhändler

Holger Schwarz ist der nüchternste Weinhändler Berlins. Seit Jahren lebt er abstinent und hat den Charlottenburger Weinladen Viniculture auch deshalb zu Berlins spannendster Adresse einer neuen alkoholfreien Trinkkultur gemacht. Ein Gespräch über den Rausch, die Katerstimmung und den Dry January.

Holger Schwarz bietet in seinem Laden Viniculture alkoholfreie Weine an. Foto: Tilo Wiedensohler/Viniculture

Viniculture: Trocken – nicht nur im Dry January

tipBerlin Herr Schwarz, als jemand, der gar keinen Alkohol mehr trinkt: Wie begegnen Sie einem Phänomen wie dem Dry January?

Holger Schwarz Zunächst einmal: offensichtlich auf Englisch. Dry January, Sober October, NOvember, das klingt ja auch alles viel cooler als Fastenzeit. Das meine ich übrigens gar nicht despektierlich: Ich kann durchaus nachvollziehen, warum aus einer Verzichtserklärung eine hedonistische Geste geworden ist. Ich tue mir etwas Gutes. Ich bin Teil einer nachhaltigen Bewegung.

tipBerlin Für eine Bewegung braucht es viele. Hat Viniculture den Dry January bereits in seinen Bilanzen gemerkt?

Holger Schwarz Für den Januar 2023 kann ich sagen, dass unser meistverkaufter Produzent Muri aus Kopenhagen war – und damit kein Weingut, sondern ein alkoholfreies Produkt. Ja, wir notieren also ein deutlich gestiegenes Interesse an nichtalkoholischen Alternativen. Wir pflegen unser wachsendes Sortiment an Low- und No-Alcohol-Angeboten nicht nur, weil der Weinhändler selbst nicht mehr trinkt.

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Um locker zu sein, hilft Alkohol ungemein

Holger Schwarz

tipBerlin Warum überhaupt gehört zu gutem Essen immer auch Wein, gerne auch viel Wein?

Holger Schwarz Der tipBerlin hat ja selbst einmal geschrieben: Essen ist das neue Pop. Pop verlangt von seinen Rezepient:innen, locker zu sein. Und um locker zu sein, hilft Alkohol ungemein. Es gab eine Zeit, da war es einfacher, sich in einem Restaurant zu bewegen, da haben die Etikette und starre Rituale vieles geregelt. Heute ist der Stimmungsgeber der Gast. Und von dem wird permanent eine expressive Lässigkeit gefordert. Coole Restaurants definieren sich über ein cooles Publikum …

tipBerlin … und es ist noch immer cool, betrunken oder zumindest beschwipst zu sein?

Holger Schwarz Je mehr getrunken wird, desto besser die Stimmung – wenigstens  unter denen, die selbst angeheitert sind. Und dann kommt noch etwas hinzu, worüber ich als jemand, der lange genug selbst ein problematisches Trinkverhalten hatte, leichter reden kann: Auch der Gastronom kann mehr trinken, wenn seine Gäste mehr trinken. Er schafft sich ein passendes Umfeld für den eigenen kritischen Konsum.

tipBerlin Sie gehen noch immer oft aus. Wie ist die gastronomische Landschaft Berlins so ganz nüchtern betrachtet?

Holger Schwarz Es gibt definitiv rauschorientierte Restaurants, wo der ganze Laden relativ schnell hochpegelt. Da ist man dann als Nichtrinker ruckzuck isoliert.

Weinhändler Holger Schwarz setzt auf alkoholfreie Alternativen

tipBerlin Umgekehrt gefragt: Gibt es Restaurants, die Sie uns im Dry January empfehlen?

Holger Schwarz Ganz viele Restaurants – das ist eine der schönen Erkenntnisse der vergangenen zwei Jahre. Ich finde es sehr erfreulich, wie intensiv sich die Berliner Gastronomie einerseits mit einem alkoholfreien Getränkeangebot auseinandersetzt und wie wenig man andererseits zum Trinken animiert oder gar genötigt wird. Interessanterweise spielt der Wein aber gerade in den höherpreisigen Restaurants noch immer eine größere Rolle – argumentiert wird dann gerne mit der Fachkompetenz, mit dem Niveau des Genusses.

tipBerlin Nicht selten servieren diese Restaurants Weine aus Ihrem Sortiment. Sie würden dennoch widersprechen?

Holger Schwarz Selbst mir als geübtem Trinker waren acht Weine in einer Menübegleitung einfach zu viel. Zusammen mit dem Aperitif addiert sich das auf weit mehr als einen Liter Wein. Und spätestens beim fünften Glas kann man Nuancen vielleicht noch schmecken, aber definitiv nicht mehr wertschätzen. Das empfinde ich in gewisser Weise sogar als übergriffig: Man begibt sich in die Obhut eines kulinarischen Konzeptes und kommt mit einer Störung nach Hause.

Vinoculture ist eine der spannendsten Adressen für eine neue Trinkkultur. Foto: Tilo Wiedensohler/Viniculture

tipBerlin Das vegetarische Cookies Cream geht deshalb einen neuen Weg: In der Begleitung wechseln sich alkoholische und nichtalkoholische Getränke ab.

Holger Schwarz Eine gute Idee. Man muss nicht auf die beschwingende Wirkung von Alkohol verzichten, vielleicht auch nicht auf den kleinen Schwips. Aber man wird das kulinarische Erlebnis, zu dem ich unbedingt auch die Getränke zähle, viel wacher wahrnehmen.

tipBerlin Wir sollten also flexitarischer Trinken?

Holger Schwarz Das trifft es gut – nicht  immer nur Fleisch, nicht immer nur Trauben. Für mich als Weinhändler lautete eine Erkenntnis: Ich habe mich zwar als Vermittler einer Genusskultur betrachtet, aber alle, die sich generell oder nur für den Moment nicht berauschen wollten, waren von diesem Genuss ausgeschlossen.

tipBerlin Erleben Sie auch bei ihren Kund:innen ein durchaus selbstkritisches Bewusstsein?

Holger Schwarz Vielleicht war da der problematische Umgang mit Alkohol während der Lockdowns prägend, als neben dem Laptop selbstverständlich das Glas Wein stand, nachmittags um Fünf. Ausgehend von den Erfahrungen der Pandemie haben wir jedenfalls viele Dinge hinterfragt, auch unsere Konsumgewohnheiten. Hinzu kommt: Beinahe die Hälfte der heute 20- bis 30-Jährigen trinkt sehr selbstverständlich gar keinen Alkohol.

Holger Schwarz von Viniculture hat den Naturwein nach Berlin gebracht – und erkundet nun ein neues Spielfeld

tipBerlin Erklärt das allein das aktuelle Interesse an einer alkoholfreien Trinkkultur?

Holger Schwarz Weitere Gründe liegen auch im Weinmarkt selbst. Wir haben in den vergangenen Jahren eine gewisse Sättigung erlebt, die Distinktionserzählungen haben nicht mehr so gut funktioniert. Vor 15 Jahren habe ich mit Viniculture die ersten Naturweine nach Berlin gebracht. Die Aufbruchstimmung rund um eine alkoholfreie Trinkkultur erlebe ich sehr ähnlich. Es ist ein neues Spielfeld, auf dem sich eine junge Generation selbstbewusst positionieren und glänzen kann. Das gilt für die Produzenten und genauso die Kund:innen.

tipBerlin Nun sind Sie immer noch Weinhändler: Was spricht gegen alkoholfreien Wein?

Holger Schwarz Unser Ziel ist es, uns mit den alkoholfreien Alternativen an der Komplexität eines Weingeschmacks entlangzubewegen. Die Übersüße von Trauben ist dazu am allerwenigsten geeignet. Stattdessen: Kombuchas, Tees, verschiedene Fermente, Kräuterauszüge, das ist noch lange nicht zu Ende gedacht. 

tipBerlin Ein solch aufwendig produziertes Getränk kostet so viel wie ein guter Wein. Ist der Markt schon bereit, diesen Preis zu zahlen?

Holger Schwarz Ich würde sogar sagen, die Leute möchten das gerne bezahlen: Eine gute Verpackung, eine schöne Farbe und Textur, eine nice Perlage, so ein Getränk steht selbstbewusst neben einem teuren Schaumwein. Es signalisiert, ich gehöre dazu und sitze hier nicht sauertöpfisch außen vor mit meinem Maracuajsaft.

  • Viniculture Grolmanstr. 44–45, Charlottenburg, Mo 13-19 Uhr, Di-Fr 12-19 Uhr, Sa 11-19 Uhr, online

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