Fine Dining

Michelin-Sterne in Berlin: Guter Geschmack definiert sich neu

Die Michelin-Sterne sind verliehen, die kulinarische Metropole Berlin hat neue Sterne-Restaurants. Was hat sich 2023 verändert? Die Auswahl ist stellenweise überraschend. Hier und da zeigt sich, dass der Guide Michelin mehr Verständnis für den Alltag braucht. tipBerlin-Gastroexperte Clemens Niedenthal schätzt die Situation ein – und sieht Chancen für die kommenden Jahre in einer Branche, in der nicht mehr alle nach den Sternen streben.

Das Rutz Restaurant bleibt Berlins einziger wie verdienter Dreisterner. Foto: Stefan Josef Mueller

Michelin-Sterne für Berliner Restaurants: Spannende Spekulationen

Spannender fast als die Verleihung der diesjährigen Michelin-Sterne am Dienstagabend in Karlsruhe waren die Spekulationen innerhalb der Berliner Gastro-Szene, wer denn in diesem Jahr einen ersten (oder einen weiteren Stern) verdient habe. Sophia Rudolph und das Lovis? Vielleicht. Arne Anker und sein Brikz? Schon unbedingter. Gerade weil mit dem ehemaligen Chefkoch des Pauli Saals damit ein Küchenchef ausgezeichnet worden wäre, der, ohne Investoren im Rücken, sein Restaurant als Einzelkämpfer wuppt. Eine nachhaltige Entscheidung, zumal man längst auch außerhalb der Branche weiß, wie viele Michelin-Restaurants nur als reine Subventionsgeschäfte funktionieren.

Brikz-Chef Arne Anker. Foto: Nils Hasenau

Auch wir hatten uns im tipBerlin derweil aus dem Fenster gelehnt und das Tante Fichte in der Kreuzberger Fichtestraße für die Auszeichnung empfohlen. Es war für uns eine der Überraschungen des vergangenen Gastro-Jahres. Weil Küchenchef Dominik Matokanovic mit den intuitiven Aromen seiner kroatischen Heimat spielt und es schafft selbst die Wucht des perfekten Cevapcici-Fladens in eine wirklich feine Küche zu integrieren. Weil er würzen kann – und wirklich würzt. 

Berliner Sterne-Restaurants: Es kam dann doch ganz anders

Tim Tannebergers theNOname ist eines der neuen Sterne-Restaurants 2023 – und das lag auf der Hand. Foto: Florian Kroll

Nun, es ist anders gekommen. Dass aber Tim Tanneberger, nach dem Eins44 in Neukölln nun im theNOname auf der Oranienburger Straße angekommen, einmal einen Michelin-Stern bekommen werde, lag auf der Hand beziehungsweise in den Tellern. Der noch immer junge Koch kann gar nicht anders, als sehr komplex, sehr konzentriert und dabei aber immer, ja, sehr lecker zu kochen. Klassisch in einem Sinne, der vor wenigen Jahren noch avantgardistisch war. Auch das erzählt viel über die Dynamik einer Branche, in der nicht mehr jede junge gute Küche nach den Sternen strebt. Das Otto, das Merold, das Oukan, das Chateau Royal, um nur einige noch immer junge Beispiele zu nennen. 

Der Guide Michelin sollte sich dem Alltag öffnen

Das Herzstück des Bonvivant ist die Bar. Das vegetarische Cocktail-Bistro hat einen Stern erhalten – eine Überraschung. Foto: Marianne Rennella
Das Herzstück des Bonvivant ist die Bar. Das vegetarische Cocktail-Bistro hat einen Michelin-Stern erhalten – eine Überraschung. Foto: Marianne Rennella

Der zweite neue Stern in Berlin, und das ist eine wirkliche Überraschung, geht an das vegetarische Cocktail-Bistro Bonvivant im Schöneberger Goltzstraßekiez. Auch hierfür gibt es gute Gründe, das stets synergetische Zusammenspiel von Glas und Teller etwa. Dennoch würde die Auszeichnung eines (auch preislich) alltäglicheren Ladens schlüssiger erscheinen, wenn sich der Guide ganz generell dem großartigen kulinarischen Alltag (nicht nur) Berlins öffnen würde. Ja, gerne wirken solche Entscheidungen des Guide Michelins wie die (lächerlichen) bunten Socken, die manch ein „Freigeist“ zum formellen Anzug trägt.  

Darüber hinaus: Was ist mit dem Lode & Stijn? Mit The Duc Ngos Ryōtei 893? Oder mit dem Hallmann & Klee am Böhmischen Platz, dem vielleicht gastlichsten Restaurant Berlins? Und warum hat das Tulus Lotrek, dieses immer so geistreiche Schlaraffenland von einer kulinarischen Erfahrung, nicht endlich den verdienten zweiten Stern? Auch die in einem fast klösterlichen Sinne exzentrische Produkterfahrung bei Dylan Watson-Brawn im Ernst am Nettelbeckplatz ist mit einem Michelin-Stern recht ungenau beschrieben

Rutz bleibt Berlins einziges Drei-Sterne-Restaurant

Apropos: Die konzentrierte, stets elegante Produktküche von Marco Müller im Rutz bleibt Berlins einziger wie verdienter Dreisterner. Das Horváth, das Coda, das Restaurant Tim Raue, das Facil und das Lorenz Adlon Esszimmer, nun mit neuen Küchenchef Reto Brändli, haben auch in diesem Jahr zwei Michelin-Sterne. 

Dass das Grill Royal, das unter so vielen Aspekten beste Restaurant Berlins, indes weiterhin keinen Michelin-Stern hat (im Grill wird man sich darüber freuen), kann nur damit begründet werden, dass für die Tester:innen des Guide Michelin die feine Küche immer zwangsläufig eine verfeinerte Küche ist. Und nicht das perfekte Tatar, der perfekte Salatkopf und die perfekte Atmosphäre.

Kin Dee hat den Michelin-Stern verloren

Dazu passt, dass das (entfernt) zur Grill-Royal-Gruppe gehörende Kin Dee als erstes Berliner Restaurant seit längerem seinen Michelin-Stern verloren hat. Sagen wir es so: Dalad Kambhu und ihr Team haben sich zumindest nicht sonderlich angestrengt, die Konventionen des in mehreren Dimensionen ältesten Restaurantführers der westlichen Welt zu erfüllen. Alle übrigen 15 Einsterner konnten ihre Auszeichnung bestätigten. 

Über den Winter haben zwei Einsterner geschlossen, Sonja Frühsammers Restaurant und das EinsUnterNull. So tragisch sind diese Änderungen bei den Michelin-Sternen in Berlin nicht. Vielleicht ist es sogar eine Chance. Nach Zeiten der Pandemie und in Zeiten der Inflation definiert sich der gute Geschmack mal wieder neu. Spannend wird sein, ob es dem Guide Michelin im kommenden Jahr gelingt, auch diese Entwicklung aufrichtig zu schmecken.  


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