Berlinale 2020

Die „Retrospektive“ würdigt den Hollywood-Regisseur King Vidor

Raus aus der Enge: Die diesjährige Retrospektive der Berlinale gilt dem Hollywood-Regisseur King Vidor

1929 besetzte King Vidor seinen ersten Tonfilm „Hallelujah“ ausschließlich mit schwarzen Darstellern, Foto: 1929 Turner Entertainment Co All Rights Reserved

In seinen Glanzzeiten war King Vidor ein Star-Regisseur im doppelten Wortsinn: Seit er 1925 für MGM den Kassenschlager The Big Parade – ein Melodram über den Ersten Weltkrieg – gedreht hatte, war der 1894 geborene Amerikaner bis zum Ende seiner Karriere in den 50ern in Hollywood ein gefragter Mann. Er inszenierte die Prestige- Produktionen der bedeutenden Studios, arbeitete mit den ganz großen Stars der jeweiligen Ära: Gary Cooper, Bette Davis, Gregory Peck, Jennifer Jones, Audrey Hepburn. Aber an den Nachruhm eines Alfred Hitchcock, John Ford oder Howard Hawks reichte sein Status dann doch nie heran. Warum?

Vielleicht, weil es zu kurz greift, Vidor trotz erkennbarer stilistischer und inhaltlicher Eigenheiten seiner Filme als einen „Auteur“ zu betrachten. Den unbedingten Stilwillen Hitchcocks besaß er ebenso wenig wie die intellektuelle Schärfe von Hawks. Stattdessen lassen seine Filme erkennen, warum er in Hollywoods Studiosystem der ideale Regisseur war: Vidor hatte künstlerische Ambitionen, interessierte sich für „große“ Themen sozialer und politischer Natur und verfilmte gern literarische Bestseller. Doch all dies barg für die Filme auch die Gefahr, schnell veraltet zu wirken.

Manchmal zeitigten Vidors künstlerische Prätentionen tatsächlich sehr ungewöhnliche Filme wie The Fountainhead (1949), die Verfilmung eines Romans über moderne Architektur, die sich in Richtung einer pseudophilosophischen (aber recht spaßigen) Abhandlung über Macht und Charakter, radikalen Individualismus, Geld und Massenmedien entwickelt.

Von den zeitgenössischen Kritikern als alberner Unsinn verlacht

Ein Gegenbeispiel ist The Citadel (1938), Vidors berühmte Verfilmung eines Arztromans von A.J. Cronin, in dem Robert Donat als idealistischer Doktor nicht nur Lungenkrankheiten bekämpft, sondern auch die Ignoranz der britischen Minenbesitzer. Damals als sehr realistisch und wahrhaftig gepriesen, verwundert aus heutiger Sicht die doch sehr plakative Botschaft der Story.

Umgekehrt verhält es sich mit einem Melodram wie Beyond the Forest (1949): Von den zeitgenössischen Kritikern als alberner Unsinn verlacht, erkennt man heute die Qualitäten dieses Films, in dem Bette Davis als Provinzschönheit Rosa mit allen Mitteln der Enge einer US-Kleinstadt zu entrinnen sucht.

Generell war das Melodram King Vidors bevorzugtes Genre. Oft ging es um sexuelle Hörigkeit wie in Hallelujah (1929), seinem ersten Tonfilm, der – für Hollywood sehr ungewöhnlich – ausschließlich mit schwarzen Darstellern besetzt wurde und mit vielen Musikeinlagen aufwartet. An „Hallelujah“ lässt sich auch gut nachvollziehen, wie geschickt es Vidor verstand, melodramatische und komödiantische Elemente zu verknüpfen. Denn Vidor konnte auch Komödie, wie seine mit vielerlei Insider-Scherzen bestückte Satire Show People (1928) zeigt, in der Marion Davies als talentfreie Schauspielerin Karriere in Hollywood macht.

Vidors Stummfilm-Meisterwerk aber ist zweifellos The Crowd

Vidors Stummfilm-Meisterwerk aber ist zweifellos The Crowd (1928). „Von diesem jungen Mann wird die Welt noch hören“, verkündet da ein stolzer Vater bei der Geburt seines Sohnes – und irrt fatal. Denn John Sims (James Murray) bleibt stets ein Mensch der Masse, der sich mit Alltagsproblemen herumschlagen muss: Ehestreitigkeiten, Arbeitsplatzverlust und zu wenig Geld. Andeuten wird Vidor das bereits in einer Sequenz zu Beginn, die Sims an seinem Arbeitsplatz einführt: Die Kamera schwenkt an einem Wolkenkratzer hoch, um schließlich in einem monströsen Großraumbüro bei einem Schreibtisch zu landen. Auf dem Namensschild des vermeintlichen Wunderkinds lässt sich eine Ziffer erkennen: Im Büro ist Sims lediglich die Nummer 137.


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