Berlinale 2020

Die Wettbewerbs-Sektion „Encounters“ wendet sich besonders wagemutigen Produktionen zu

Es ist schon überraschend: Nach über 40 Jahren – erst- und letztmals 1978 mit „Deutschland im Herbst“ – ist Alexander Kluge wieder in einen Wettbewerb der Berlinale eingeladen: in die vom neuen künstlerischen Leiter Carlo Chatrian frisch eingerichtete kompetitive Berlinale-Sektion Encounters

Ian Madrigal und Lilith Stangenberg in „Orphea“, Foto: Berlinale

Kluge, 88 Jahre alt und keine Spur altersmilde, präsentiert dort mit Orphea seine zweite Zusammenarbeit mit dem philippinischen Tausendsassa Khavn. Ihre Neuinterpretation der Sage von Orpheus und Eurydike dürfte ein gefundenes Fressen für diesen 15 Filme umfassenden Wettbewerb sein, der sich „ästhetisch und formal ungewöhnlichen Werken“ widmet. Offensichtlich gefällt Chatrian die Rolle des subtilen Systemsprengers, denn dieses programmatische Motto von Encounters kann, muss aber nicht als eine kleine Spitze gegen die etablierten Sektionen der Berlinale gesehen werden.

Feierte das erste Gemeinschaftswerk „Happy Lamento“ von Kluge und Khavn noch 2018 bei den Filmfestspielen in Venedig seine vielbeachtete Premiere, so hat Chatrian die Uraufführung von „Orphea“ nun nach Berlin gelotst, was durchaus ein kleiner Coup mit einem Sinn für feine Gesten ist. Denn Kluges international bekanntester Film „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“, den er damals nach eigener Aussage „einfach aus einer Frustration über die Berliner Filmfestspiele“ drehte, gewann 1968 ausgerechnet in Venedig den Goldenen Löwen. So wird diesmal bei Herrn Kluge keine Frustlaune im Vorfeld der Berlinale aufkommen, und dank „Orphea“ bekommt sogar Lilith Stangenberg mit Verspätung ihren verdienten Berlinale-Auftritt, der ihr 2016 für die Hauptrolle in Nicolette Krebitz’ starkem Film „Wild“ leider nicht vergönnt war.

In „Orphea“ performt sich Lilith Stangenberg sicherlich auf ihre unnachahmliche Art und Weise als Underground-Sängerin durch die wilden Nächte Manilas und das Totenreich, um ihren Geliebten ins Leben zurückzuholen. Aus Orpheus wird Orphea, aus Eurydike Eurydiko: Kluge und Khavn bürsten die traurige Liebesgeschichte zeitgemäß gegendert gegen den Strich. Arbeitsteilig ist Khavn für den Exzess und grotesken Totentanz in Manila zuständig, Kluge zeichnet verantwortlich für alle politisch-historisch-mythologischen Diskurse und Dekonstruktionen rund um den Orpheus-Mythos.

Schwere Kämpfe

Ein ebenso bemerkenswerter deutscher Beitrag der Encounters-Sektion ist Nackte Tiere. Das Langspielfilm-Debüt von Melanie Waelde basiert auf ihrem 2017 an der DFFB entstandenen Abschluss-Drehbuch. Für dessen Verfilmung hat sie ähnlich schwere Kämpfe führen müssen wie die Jugendlichen, die sie in ihrem Film porträtiert. Waelde erzählt von einer Clique Heranwachsender, die kurz vor dem Abitur steht und sich zu einer ganz eigenen Schicksalsgemeinschaft verschworen hat. Nur das Kennzeichen des Autos, das für sie ein bisschen Freiheit bedeutet, lässt den Rückschluss zu, dass ihre Geschichte im Brandenburger Niemandsland spielt. Komplett auf sich alleine gestellt, sind weder ihr Wohnort noch die Welt der Erwachsenen für die Teens von Relevanz. Zwischen Durchhalten und Fluchtreflex leben sie im sozialen Gefüge ihres Beziehungsgeflechts, in dem sie kuscheln, sich küssen und schlagen. Waelde interessiert sich für die Hoffnungslosigkeit ihrer Protagonisten, die wie gefangene Tiere eine fragile, aber zärtliche Solidarität füreinander entwickelt haben.

„Die Filme stellen sich der Herausforderung, eine Welt zu gestalten, statt sie zu reproduzieren“, äußerte Carlo Chatrian vorab als persönliches Kriterium für die Filmauswahl der neuen Sektion. Für „Orphea“ und „Nackte Tiere“ trifft das wohl zu, bei weiteren Beiträgen wie etwa der Weltpremiere des Encounters-Eröffnungsfilms Malmkrog des rumänischen Regisseurs Cristi Puiu oder der Horrorfilm-Variante Shirley mit Elisabeth Moss in der Hauptrolle besteht Anlass zur Vorfreude.


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